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mentare, aber nicht in kruder Form, sondern so überarbei¬
tet, dass es vom Auge des Lesers als angenehm empfunden
wird : Auf dieser Grundlage hat Adrian Frutiger nicht nur die
Univers, sondern auch seine drei andern Serifenlosen gestal¬
tet. Eine gut gezeichnete Serifenlose hält er nach wie vor
für die schwierigste Aufgabe, die sich einem Type Designer
stellen kann. Wie subtil er sie beim Erarbeiten der Univers
gelöst hat, ermisst, wer in der gleichen TM die Abbildungen
betrachtet, die den Aufsatz erläuternd illustrieren. Die hohe
Schriftkultur der Univers wird aber auch offensichtlich,
wenn man sie mit den gleichzeitig entstandenen Druck¬
schriften Helvetica (ursprünglich Neue Haas-Grotesk) und
Folio vergleicht.
Nach zehnjähriger Tätigkeit bei Deberny & Peignot
macht sich Frutiger 1962 selbständig. Er arbeitet zuerst mit
einer wechselnden Gruppe von Freunden und weiteren
Mitarbeitern, lange Zeit mit Bruno Pfäffli, später allein. In
den dreissig Jahren bis zu seiner Rückkehr in die Schweiz,
1992, entsteht in seinem Atelier in Arcueil, in der südlichen
Banlieue von Paris, ein weitgespanntes, bedeutendes
Œuvre: neue Druckschriften (auch eine Dewanagari-Schrift-
familie und eine Tamilschrift gehören dazu), Erscheinungs¬
bilder für staatliche Institutionen und private Firmen, Orien¬
tierungssysteme für den öffentlichen Verkehr, freie Arbei¬
ten zwei- und dreidimensionaler Art und ein vielbeachtetes
Buch, Der Mensch und seine Zeichen. Vorträge an Kongres¬
sen und Seminaren bringen ihn in viele Länder der Welt.
Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre
arbeitete Frutiger, zusammen mit einer Gruppe von Techni¬
kern der European Computer Manufacturers Association, an
der Entwicklung der OCR-B-Schrift (OCR = Optical Character
Recognition). Dies ¡st ein Alphabet, das von elektronischen
Lesern fehlerlos erkannt wird, dessen Formen aber - im
Gegensatz zu OCR-A - das menschliche Auge nicht beleidi¬
gen. OCR-B ist 1973 zum Weltstandard geworden.
In den siebziger Jahren schuf Adrian Frutiger ein neues
Beschriftungssystem für die Pariser Métro und - folgenrei¬
cher - für den Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle in Roissy.
Das für Roissy geschaffene Alphabet wurde später zur
Grundlage für eine weitere Druckschrift. Die Frutiger - so
ihr Name - hat sich ähnlich rasch durchgesetzt wie die Uni¬
vers und ist seit einigen Jahren z.B. die Hausschrift der
Schweizer PTT-Betriebe.
Im Gegensatz zur Univers ist die Frutiger offener, auch
griffiger, direkter; sie wirkt weniger glatt. Ihr Anwendungs¬
bereich ¡st breiter als der der Univers. Bei richtigem Einsatz
ist sie sogar für literarische Texte zu brauchen. Das hängt
damit zusammen, dass der ganze Schrifthabitus näher bei
einer traditionellen Antiqua liegt, dass die Unter- und
Oberlängen im Verhältnis zu den Mittellängen kräftiger
ausgebildet sind als bei der Univers; auch sind die Versalien
weniger hoch als die Oberlängen. Alle diese Merkmale ma¬
chen sie zu einem absolut eigenständigen Typencharakter
innerhalb der Serifenlosen, gleicherweise entfernt von
historischen Grotesken wie von der Univers, von der Futura
wie von der Gill Sans oder der Syntax. Dass ein und derselbe
Gestalter zu so unterschiedlichen Aussagen gelangt, ohne
die oben skizzierten Grundsätze zu verlassen, ist alles an¬
dere als selbstverständlich.
Noch zwei weitere Male hat sich Frutiger mit einer End¬
strichlosen beschäftigt. Anders als bei der Univers und der
Frutiger, die im Konzept und Ausdruck absolut eigenständig
sind, handelt es sich bei den andern Endstrichlosen um Para¬
phrasen bereits vorhandener Schrifttypen.
1988 erschien bei Linotype die Avenir. Der Name bedeu¬
tet auf französisch Zukunft, das lateinische Äquivalent futu¬
ra. Tatsächlich war es Frutigers Idee, Paul Renners Futura aus
den späten zwanziger Jahren zu überarbeiten und zwar so,
dass alles, was an ihr zu stark an Zirkel und Lineal erinnert,
im Sinne der schon zweimal angesprochenen gestalte¬
rischen Grundsätze, optisch korrigiert werde. Der Vergleich
zwischen den beiden Schriften ist erhellend, ein eigentliches
Schulbeispiel. Es lässt sich kaum besser demonstrieren, wie
stark kleine und kleinste, scheinbar unbedeutende Korrek¬
turen den Charakter einer Schrift verändern. Die Rechnung
scheint aber, was die Anwendung der Avenir in der typogra-
fischen Praxis betrifft, nicht aufgegangen zu sein, mindes¬
tens bis heute nicht. Empfindet man sie als Zwitter, als nicht
mehr Renner und nicht ganz Frutiger?
Obwohl man eine solche Reaktion verstehen kann, ist
auch die Avenir ein Kind ihres Schöpfers. Niemand sonst
hätte die optischen Korrekturen so und nicht anders vor¬
nehmen können. Jeder Druckschriftenentwerfer von eini¬
gem Niveau hat nicht nur bestimmte Ansichten bezüglich
der Grundstruktur gewisser Buchstaben - bekannt ist etwa
das unverwechselbare Frutiger-Q! -, seinen Zeichen eignet
immer auch eine ganz persönliche Kurvenqualität. Alle
Schriften von Hermann Zapf sind aus diesem Grunde un¬
schwer als Zapf-Schriften zu erkennen, alle Schriften Fruti¬
gers zeigen seine nur ihm eigenen Kurven. In dieser Hinsicht
kann weder der eine noch der andere über seinen eigenen
Schatten springen. Selbst die Dewanagari- und die Tamil¬
schriften sind sofort und unzweideutig als Frutiger-Schriften
zu identifizieren.
Auch die Vectora, die neueste Serifenlose, hat ihre Vor¬
bilder. Es sind die von Morris F. Benton zu Beginn unseres
Jahrhunderts für die American Type Founders (ATF) gezeich¬
neten Franklin Gothic, Lightline Gothic und News Gothic,
sowie die auf dieser Grundlage von Jackson Burke 1948 für
Linotype entworfene Trade Gothic. Aber die Distanz der
Vectora zu diesen Schriften ist ungleich grösser als die von
der Avenir zur Futura. Neben vielen anderen Details sind es
vor allem die in der Höhe stark zurückgenommenen Versa¬
lien, die der Schrift ihre Eigenheit verleihen. Die Zukunft
wird zeigen, ob die Vectora ein breiteres Bedürfnis zu wek-
ken vermag als die Avenir; denkbar wäre es, gerade wegen
der eindeutigen Distanz zu ihren Vorbildern und der da¬
durch gewonnenen Eigenständigkeit.
Von den ungefähr dreissig Druckschriften, die Frutiger
im Verlaufe der Jahre gezeichnet hat, sind bis heute neben
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der erwähnten Méridien, Univers und Frutiger nur noch die
Serifa und die Centennial zu breiterer Verwendung gelangt.
Die Serifa ¡st - neben Peter Matthias Noordzijs Caecilia -
immer noch die eleganteste Serifenbetonte auf dem Markt.
Die Centennial erschien 1986 zum Hundert-Jahr-Jubi¬
läum von Linotype. Es ist eine klassizistische Antiqua, eine
schmal laufende mit stark reduziertem Unterschied in den
Strichstärken. Sie erinnert mit ihrem normalen und leichten
Schnitt an die häufig gezeichnete Century, vor allem an jene
Versionen, die Linn B. Benton und Morris F. Benton kurz vor
und nach 1900 für die American Type Founders schufen. Wie
diese kennzeichnet auch die Centennial etwas maschinen-
mässig Stereotypes; sie ist leidenschaftslos, ihr Ausdruck von
kaum zu beschreibender Neutralität. Freilich ist Frutigers
Schrift geschmeidiger als ihre Verwandten. Da die Centen¬
nial praktisch kein »Klima« hat, es sei denn ein sehr kühl
distanziertes, eignet sie sich gut für sachliche Texte, z. B. aus
dem Bereich der Naturwissenschaften.
Mit wenigen Ausnahmen sind alle seine Schriften Fliess¬
text- oder Werksatzschriften, d.h. Schriften für grössere
Textmengen. Adrian Frutiger steht mit seinem Schaffen in
einer langen Tradition, die weit zurück reicht in die Ge¬
schichte, nicht nur bis zu Gutenberg, sondern darüber
hinaus in jene Zeiten, als sich unser lateinisches Alphabet zu
formen begann. Die erfolgreiche Arbeit an neuen Druck¬
schriften, die mehr sein wollen als modische Eintagsfliegen,
kann nur vor diesem Hintergrund geschehen. Einerseits dür¬
fen die Verhältnisse der Buchstaben nicht in ungewohnter
Weise verändert werden, andrerseits müssen sich die zeich¬
nerischen Details ständig neuen technischen Erfordernissen,
auch dem Zeitgeist, anpassen. Wird dem Laien jedoch eine
Veränderung bewusst, kann man sicher sein, dass die Schrift
den Tag nicht überdauern wird.
Das alles weiss Frutiger. Er sieht sich auch in der Annah¬
me bestätigt, dass eine als schön empfundene Schrift zu¬
gleich eine gut lesbare Schrift ist, wobei der Umkehrschluss
ebenso gilt; optimale Funktion und ästhetisches Wohlgefal¬
len gehen hier in der Regel Hand in Hand. Dabei kommt es
nicht so sehr auf die Einzelbuchstaben an als auf deren
Kombination, auf das Wort- und Zeilenbild.
Frutiger begann als Entwerfer für Schriften für den Blei¬
satz. In den mehr als 40 Jahren, die seither verflossen sind,
hat er die ganze Entwicklung bleiloser Techniken vom Foto¬
satz bis zum digitalisierten Satz gestaltend miterlebt. Es
muss ihn mit Freude und Genugtuung erfüllen, dass heute
eine Satzqualität erreichbar ¡st, die man lange Zeit für un¬
möglich gehalten hat.
Bei allem gesunden Selbstbewusstsein und berechtigten
Stolz über das Geleistete ist Adrian Frutiger bescheiden
geblieben. So wie die Schrift dem Wort dient, hat er der
Schrift gedient. Dass das Wort über der Schrift steht, ist ihm
bewusst.
Jost Hochuli
Februar 1994