Titelseite:
Das verschoben gerasterte a der jeweiligen Grundschnitte
der acht Textschriften findet sich hier übereinanderkopiert.
Beim Entwerfen von modernen Schriften gehorcht die Form¬
gebung dieser klassischen Grundstruktur. Der Kern des Zei¬
chens ist wie der reine Гол in der Musik - die Aussenform
jedoch bewirkt den Klang.
Farbvorlagen:
«form», Zeitschrift für Gestaltung, III, 1981
5
»Ich wollte immer jemand werden - öpper si, öpper a dr
Spitze si «. So Adrian Frutiger vor etwas mehr als fünf Jahren
zu einem Journalisten. Trifft man Frutiger an einem inter¬
nationalen Kongress oder an einem Seminar, ist von diesem
Ehrgeiz seiner frühen Jahre kaum mehr etwas zu spüren. Es
scheint, dass er sein Lebenswerk als Schriftgestalter im we¬
sentlichen für abgeschlossen hält, auch wenn er die Hände
durchaus noch nicht in den Schoss gelegt hat. Was immer
aber noch dazukommen mag, eines steht schon lange fest:
Frutiger hat die Schriftkultur in derzweiten Hälfte des zwan¬
zigsten Jahrhunderts weltweit entscheidend geprägt.
Adrian Frutiger ¡st 1928 in Unterseen bei Interlaken
geboren. Nach Sekundärschule und Lehre als Schriftsetzer
bildet er sich an der Kunstgewerbeschule (heute Schule für
Gestaltung) der Stadt Zürich weiter. Alfred Willimann und
Walter Käch sind seine Lehrer,die Schrift das zentrale Thema.
Unter dem Einfluss Willimanns, eines aussergewöhnlichen
Menschen und Lehrers, wird für ihn die Schrift zu einem tief
bewegenden formalen Erlebnis, das ihn sein Leben lang
nicht mehr loslassen sollte. Bei Willimann wird er in die
Geheimnisse des Schwarz-Weiss, des Positiv-Negativ ein¬
geführt, in das, was die Gestaltpsychologie Figur-Grund-
Beziehung nennt. Von Willimann hört er erstmals das Wort
Okakuras, wonach zwölf Speichen zwar ein Rad bilden, das
Wesen des Rades sich jedoch aus den Räumen zwischen
den Speichen ergebe; auf die Schrift bezogen: dass die
»Materie«, das Schwarze, das Positiv nur dann optimal sein
könne, wenn das »Leere«, das Weisse, das Negativ gestal¬
tete Form ¡st. Diese Erkenntnis - an sich nicht neu - wird für
Frutiger zur nachhaltigen Erfahrung; immer wieder, auch in
Vorträgen der letzten Jahre, betont er die Wichtigkeit der
Buchstaben-Innen- und -Zwischenräume. Von Käch, seinem
anderen Zürcher Lehrer, lernt er, dass auch eine gezeich¬
nete Schrift auf Prinzipien beruhen müsse, wie sie für histo¬
rische Schriftformen gültig seien, die mit der Breitfeder ge¬
schrieben wurden. Dass die Breitfeder selbst für eine zeit¬
genössische Druckschrift das letzlich entscheidende formbil¬
dende Werkzeug bleiben müsse, war das wichtigste, was
Käch seinen Schülern mitgegeben hat. Frutiger hat die
Lehre aufgenommen und beherzigt, was sichtbare Folgen
für viele Druckschriften der kommenden Jahrzehnte haben
sollte.
Die dreijährige Ausbildung an der Zürcher Schule
schliesst Frutiger ab mit einer aussergewöhnlichen Diplom¬
arbeit: einem Pliant mit einer Holzschnittfolge auf neun
Langholztafeln, die einundzwanzig verschiedene Formen
aus der europäischen Schriftgeschichte wiedergeben, eine
formal wie handwerklich-technisch gleichermassen bewun¬
dernswerte Leistung.
Dass der nun Vierundzwanzigjährige 1952 von Charles
Peignot, dem Mitinhaber und Generaldirektor der Schrift-
giesserei Deberny & Peignot, als Schriftentwerfer nach Paris
gerufen wurde, erwies sich für Adrian Frutiger als Glücksfall
und spricht für das klare Urteil und den Weitblick von Pei¬
gnot. Dieser hatte seinen Mut nicht zu bereuen: Frutiger
legte bereits 1954 mit der Méridien, der vierten für seinen
Auftraggeber geschaffenen Druckschrift, seine erste
bedeutende Leistung vor. Die Méridien ist eine Werksatz¬
schrift, eine Schrift also, die sich im Gegensatz zu soge¬
nannten Akzidenz- oder Auszeichnungsschriften für den
Satz grösserer Textmengen eignet. Von ihr meinte Adrian
Frutiger, sie sei die schönste Schrift, die er gemacht habe.
Leider begegnet man ihren kristallklaren Formen immer
noch zu selten.
Für die Fotosatzmaschine Lumitype/Photon (und gleich¬
zeitig für den damals noch alles beherrschenden Bleisatz)
zeichnete Frutiger jene Schrift, die den noch nicht Dreissig-
jährigen in kurzer Zeit weltberühmt machen sollte: die Uni¬
vers. Mit ihr wurde zum ersten Mal in der Geschichte der
Drucktypen eine grosse Schriftfamilie nicht nach und nach
- aufgrund eines ersten erfolgreichen Schnitts -, sondern
von allem Anfang an planmässig aufgebaut: 21 verschie¬
dene Garnituren waren vorgesehen, von eng-mageren bis
zu breit-fetten. (Viel später ist das Programm dann auf 35
Schnitte erweitert worden; dazu kamen griechische und
kyrillische Garnituren.) Die Univers ist wahrscheinlich die
bedeutendste Idee, die im 20. Jahrhundert auf dem Gebiet
des Type Design konzipiert und verwirklicht wurde. Ihre
Formen gehen zurück auf eine Schrift, die Adrian Frutiger
im Unterricht von Walter Käch erarbeitet hatte. Damit floss
die Kächsche Idee von der Breitfeder als letztlich bestim¬
mendem formbildendem Werkzeug in die Univers ein;
heute ist diese Idee Allgemeingut überall dort, wo latei¬
nische Schriftformen gelehrt werden.
Wenn der Univers um 1960 in relativ kurzer Zeit der
Durchbruch auf nationaler und internationaler Ebene ge¬
lang, so hat sie das nicht zuletzt auch Rudolf Hostettler und
Emil Ruder zu verdanken. Typografischer Gestalter von
hohen Graden, leitete Hostettler während beinahe dreissig
Jahren als Hauptredaktor die Typografischen Monatsblät¬
ter, TM, mit denen er sich überzeugt und überzeugend für
die Univers einsetzte. In seiner Zeitschrift hatte schon 1957
der einflussreiche Basler Typograf Emil Ruder in einem er¬
sten Artikel auf die Schrift hingewiesen; im Januar 1961,
nachdem alle Varianten und Grade vorlagen, erschien dann
das TM-Sonderheft Univers, von Ruder hervorragend gestal¬
tet - ein Meilenstein in der Rezeption neuer Druckschriften.
Wann immer man mit Adrian Frutiger auf Schrift im all¬
gemeinen und auf Druckschrift im besonderen zu sprechen
kommt, bringt er über kurz oder lang das Thema Serifen¬
lose in die Diskussion. Kein anderer Druckschriftenentwer¬
fer hat sich intensiver mit diesem Schrifttyp befasst als Fru¬
tiger. Im oben erwähnten TM-Sonderheft erfährt der Leser
Aufschlussreiches über seine diesbezüglichen Ansichten:
»Die einheitliche Formgebung eines gleichmässigen Strichs
¡st das elementare und natürliche Ausdrucksmittel...«; und
weiter unten: »Eine rein geometrische Schriftform ist auf
die Dauer nicht haltbar. Das Auge sieht horizontale Striche
dicker als vertikale, der perfekte Zirkelkreis als О scheint
unförmig und sticht im gesetzten Wort heraus. »Das Ele-