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BERN&GADO
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Abbildung 329 Ornamentierte Versalien von Schelter,
Leipzig. 1847
In den fünfziger Jahren versuchten einige englische Druk-
ker, die Caslon-Antiqua wieder zum Leben zu erwecken.
Auch in Frankreich und Deutschland wurden alte Schrif¬
ten ohne künstlerischen Ernst nachgeahmt. Ähnlich wie
in der Architektur, wo der gotische, der Renaissance- und
der barocke Stil recht willkürlich an Bürgerhäusern und
Mietskasernen eingesetzt wurde, plagiierte man auch die
künstlerischen Leistungen früherer Jahrhunderte in den
Schriftgießereien. Im Buchschaffen verlor der einzelne an
der Buchherstellung Beteiligte durch die fortschreitende
Arbeitsteilung sein Interesse an der Qualität des Ganzen.
Zwischen Schriftgießerei, Druckerei und Verlag blieben
fast nur noch ökonomische Beziehungen. Ein auf Kredit¬
würdigkeit bedachtes Geltungsstreben und Protzentum
machte sich auch im Buchwesen bemerkbar und gab wohl
Anlaß, allzuvielevcrschiedenartigeSchriften in einer Druck¬
sache einzusetzen.
Es mag noch erwähnt werden, daß durch die Pseudo¬
renaissance zwei geläufige Schriftbezeichnungen eingeführt
wurden. Die Schriftgießerei Miller & Richards in
Edinburgh gab einer Pseudo-Caslon-Antiqua den Namen
Old Style, und bei der Londoner Firma Rees & Fox finden
wir den Namen Mediäval für eine ähnliche Schrift. In jener
Zeit, als die klassizistische Schrift selbstverständlich war,
mag den Buchdruckern eine Renaissance-Antiqua-Imi¬
tation als mittelalterlich vorgekommen sein.
Die Erfindung der Lithografie erleichterte geschmack¬
lose Formspielereien aller Art, denn für lithografische
Schriften gab es kein formbestimmendes Werkzeug. Durch
eine Überhäufung der verschiedensten Schriftarten und
durch komplizierte Liniengebilde, sogenannte Nudel¬
linien, stellten die Druckereien zwar ihre technischen Fä¬
higkeiten unter Beweis, fielen dabei aber von einer Ge¬
schmacklosigkeit in die andere. Die Mechanisierung der
Produktion führte in ihrem ersten Stadium zu einer me¬
chanischen und unkünstlerischen Auffassung der Schrift
und Typografie.
Es fehlte das Bindeglied zwischen Druckschrift und Hand¬
schrift, das früher beide befruchtete: die künstlerisch ge¬
schriebene Schrift. Das mechanisierte Druckwesen ließ der
Kalligrafie keine Existenzberechtigung; sie war scheinbar
unmodern geworden. ,
Die Schreibmusterbücher waren immer häufiger in
Steindruck hergestellt und zeigten nur noch wenige Va¬
rianten der Kurrent, dagegen eine Fülle variierter und ver¬
schnörkelter Druckschriften, die als Vorlagen für Schilder
und Beschriftungen von Läden und Geschäftshäusern ange¬
sehen wurden. Die maßgebende Schrift war schließlich die
englische Schreibschrift geworden, die mit einigen Modulie¬
rungen in allen Ländern geschrieben wurde.
Vorübergehend, während der Zeit der Aufklärung und
der Französischen Revolution, konnte man noch einen
Aufschwung der Schreibkunst beobachten. Das Schreiben
von Briefen ist noch bis zur Romantik eine Lieblings¬
beschäftigung der Gebildeten gewesen. Und viele Briefe
bedeutender Persönlichkeiten sind nicht nur nach ihrem
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Inhalt, sondern auch in ihren Schriftformen einer Betrach¬
tung würdig. Doch um die Jahrhundertmitte hat auch die
Kurrent einen Tiefstand erreicht.
Einen der Gründe hierfür finden wir in der Einführung
der spitzen Stahlfeder. Im Zusammenhang mit der Erfin¬
dung der Lithografie machte bereits Senefeld er 1798 Ver¬
suche mit Stahlfedern, und etwa um 1830 begann in Eng¬
land deren industrielle Produktion. Die spitze Feder führte
zu einer sichtbaren Minderung der Schriftqualität ; die mit
der Stahlfeder geschriebene Handschrift wirkte verkrampft,
affektiert und künstlich. Für diese unnatürlichen Formen
fanden die sogenannten Schulschriften genaue Regeln, und
den deutschen ABC-Schützen wurden jetzt mit militäri¬
scher Pedanteric die widersinnigen Formen eingebleut.
Zum Abschluß des Kapitels einige Bemerkungen über
die epigrafische Schrift des Klassizismus. Die Architekten
dieser Epoche hingen in viel stärkerem Maße als die Schrifr-
künstler von der Antike und der Renaissance ab, von Pal¬
ladio und Piran e si. Klarer als in der Schrift zeigt sich in
der Architektur der Gegensatz der bürgerlich-klassizisti¬
schen Baugesinnung zum feudalen Barock, denn bei den
Inschriften der großen Bauten erkennt man die direkte Her¬
kunft aus der römischen Kaiserzeit und der Renaissance.
Durch diesen Vergleich der epigrafischen mit der Druck¬
schrift des Klassizismus könnte der formbildende Einfluß
des Kupferstichs und des Stichels auf die Druckschrift eben¬
falls nachgewiesen werden. Meistens erscheinen Schriften
am Bau als prachtvolle Bänder in der klassischen Kapitale.
Von der Architektur beeinflußt, entwickelt auch die Grab¬
malkunst in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahr¬
hunderts eine Fülle schöner gemeißelter Schriften. Doch
mit dem Verfall der Architektur und dem schrankenlosen
Individualismus, der für das neunzehnte Jahrhundert be¬
zeichnend ist, erleidet auch die epigrafische Schrift einen
Tiefstand, der fast an den der Druckschriften heranreicht.
Abbildung 330 Handschrift von Goethe
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Abbildung 331 Handschrift von Schiller
Abbildung 332 Handschrift von Hölderlin
Abbildung 333 Deutsche Schulschrift
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