KLASSIZISTISCHE SCHRIFTKUNST UND BÜRGERTUM
J_yie letzte Stilepoche der Schriftkunst ist der Klassizis¬
mus. Als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen am Ende
des achtzehnten Jahrhunderts entstanden in wenigen Jahr¬
zehnten größere Veränderungen in den Schriftformen als
vordem in Jahrhunderten. Das erstarkte Bürgertum, ge¬
stützt auf die Antike und die Renaissance, entwickelte die
strenge klassische Schriftform weiter. Die ästhetischen An¬
schauungen des revolutionären Frankreichs zogen bald
ganz Europa in ihren Bann, und in Italien und Deutschland
entstanden eigene, nationale Schriftformen. Ebenso wie
aber die Bourgeoisie nach der heroischen Zeit der Revolu¬
tion ihre antike Drapierung abwarf und im entfesselten
Konkurrenzkampf ihr Profitstreben zur Schau stellte,
wurde die klassische Schriftkunst vom Beginn des neun¬
zehnten Jahrhunderts durch keinesfalls klassische, aber
wirksame Reklameschriften abgelöst. Folgende Schriften
dieser Epoche verdienen eine Hervorhebung: die klassi¬
zistische Antiqua und Kursiv, die klassizistische Fraktur, die
Egyptienne und die Grotesk.
Die neue Bewegung nahm wiederum in Frankreich ihren
Ausgang. Die historische Entwicklung in Frankreich for¬
derte gegen Ende des achtzehntenjahrhunder ts eineBeseiti-
gung der Einschränkung des Gewerbes und des Handels.
Der im Schöße des Feudalismus herangewachsene Kapitalis¬
mus entwickelte bereits Elemente einer neuen Kultur. Die
Enzyklopädisten trugen mit ihren Ideen zur geistigen Vor¬
bereitung der Revolution bei, und die Aufklärung war von
einer Entfaltung der Volksbildung und einem Hinwenden
zum Realismus begleitet. Jacques Louis David nahm
gegen die höfische Malerei des Rokokos Stellung. Ebenso
wie in der Renaissance orientierte sich die fortschrittliche
Klasse auf die Kunst Griechenlands und Roms. Hand in
Hand mit der Aufklärung gegen Feudalismus und Pfaffen¬
herrschaft begann eine Aufwärtsentwicklung der Schrift
und Typografie.
Die Erstausgaben der wichtigsten Werke von Jean-
Jacques Rousseau und Montesquieu mußten wegen
der strengen französischen Zensur im Ausland erscheinen.
Der Verfasser der «Hochzeit des Figaro», Beaumarchais,
nahm sich des Drucks einer Gesamtausgabe der Werke von
Voltaire an. Er kaufte von der Witwe Baskervilles
Wer das Alphabet irgendeiner Sprache aufmerksam betrachtet,
wird finden, daß es darin nicht nur ähnliche Züge bei verschie¬
denen Buchstaben gibt, sondern er wird erkennen, daß man alle
von ihnen mit einer kleinen Zahl identischer Teile, die verschieden
Zusammengesetzt sind, komponieren kann. Und indem man so
alles, was cur Unterscheidung überflüssig ist, gleich macht und
die Unterschiede so deutlich wie möglich hervorhebt, bekommen
alle Buchstaben eine gewisse Gesetzmäßigkeit und Regelmäßig¬
keit, die Gleichförmigkeit ohne Zweideutigkeit, Verschiedenartig¬
keit ohne Dissonanz un^ Symmetrie ohne Verwirrung schafft.
Giambattista Bodoni
dessen Typen und druckte eine Oktavausgabe in siebzig und
eine Duodezausgabe in zweiundneunzig Bänden. Als
Druckort wählte er Kehl im deutschen Ausland. Es ist in¬
teressant und beweist die Beziehungen der Buchkunst zur
Weltanschauung, daß der geistvolle Kritiker des Absolutis¬
mus sein Vermögen und eine vielfältige Arbeit dransetzte,
um ohne Zensur und Inquisition die Werke des bedeutend¬
sten Vorläufers der Revolution in buchkünstlerisch ausge¬
zeichneter Form herauszugeben.
Ein ähnlich politisch-ästhetisches Ideal ist in der Pariser
Druckerfamilie D id о t lebendig. Die D id о t s hatten ma߬
geblichen Anteil an der Entwicklung der klassizistischen
Antiqua. Deren erste Form wird bereits im Jahre 1775 in
denTypen vonFR an cois- Am в roiseDidotd.Ä. erkenn¬
bar. F r а N ç о 1 s - A m в r о 1 s e setzte übrigens auch die heute
noch in einigen Ländern gültige Maßeinheit der Typografie,
den Punkt, auf 0,376 mm fest (Verhältniszahl zu einem äl¬
teren französischen Maß). Mit der Revolution wurden die
lähmenden Zensurbestimmungen für den Buchdruck auf¬
gehoben. 1789 übernahm Pierre Didot die Druckerei
seines Vaters und arbeitete seit 1797 in den Räumen der
Imprimerie de la République im Louvre.
Der bedeutendste Vertreter der berühmten Familie war
Pierres jüngerer Bruder, Firmin Didot, dessen Typen
weite Verbreitung in ganz Europa fanden und die weitere
taine n'a rien inventé, c'est-à-dir
toute équivoque et déterminer le s
j'attache à ce mot, qu'aucun des suje
Abbildung 304 Didot-Antiqua
à souhaiter que d'autres mains que le
sent ajouté les ornements de la poésie
sage des anciens a jugé qu'ils n'y è to
Abbildung 30j Didot-Kursiv
182
*K maiuscole к*
ABCDEFG
HIJKLMN
OPQRST
ABCDEFG
HIJKLM
Abbildung 306 Antiqua-Versalien von Bodoni
Schriftentwicklung entscheidend beeinflußten. Die Didot-
schriften setzten die Entwicklungsrichtung der Romain du
Roi, der Schriften von Fleischmann und Baskerville
fort. Sie sind noch heller im Bild, noch exakter im Schnitt,
noch unterschiedlicher in den feinen und fetten Strichen.
Über achtzig Jahre beherrschten die ästhetischen Ansichten
Didots das europäische Schriftschaffen. Die Einwirkung
des Kupferstichs auf die Antiqua hat in den Didotschriften
ihren Abschluß gefunden. Aus der mathematischen Strenge
und dem auf die Spitze getriebenen Gegensatz zwischen
Haar- und Schattenstrichen spricht der Geist der Aufklä¬
rung. Die Didotschriften scheinen intellektuell, nüchtern
und kalt, sind aber doch voll witziger Köstlichkeiten, die
sich erst dem genaueren Studium offenbaren.
Die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revo¬
lution überstrahlten bald ganz Europa. Zuerst wurde Ita¬
lien in ihren Bannkreis gezogen, das klassische Land der
Antike. Hier förderten besonders die weitverbreiteten und
stimmungsvollen Kupferstiche Piranesis, in denen römi¬
sche Denkmale, Ruinen und Inschriften dargestellt waren,
die Entwicklung zum Klassizismus. Piranesi ist deshalb
erwähnenswert, weil Kupferstich und antikes Vorbild es
waren, die die Formen der neuen Antiqua beeinflußten.
Die politisch-ästhetische Einheit der Gesinnung vieler
Künstler des Klassizismus wird u.a. auch durch die Tat-
*t
CANCELLERESCOV40
>j-H
uousque
tandem obli¬
tère, Catilina,
patientiâ no¬
stra? quam-
ю! Doppio Canoncino fé]
Abbildung 30J «Cancellerescon-Kursiv von Bodoni
sache unterstrichen, daß die beiden Söhne Piranesis, die
das Werk des Vaters fortsetzten, ihrer revolutionären Ge¬
sinnung wegen aus Italien fliehen mußten.
Der größte Drucker und Schriftschöpfer Italiens war der
«König der Drucker» und «Drucker der Könige» Giam¬
battista Bodoni. Er wurde am ió.Februar 1740 in Sa-
luzzo geboren und lernte bei seinem Vater die Buchdruck-
und die Schriftschneidekunst. Im Alter von achtzehn Jah¬
ren reiste er nach Rom zur weiteren Ausbildung. Erst stach
er Vignetten und Stempel und wurde dann 1767 in die neue
Staatsdruckerei des Herzogs von Parma berufen. Er lernte
von den Schriften Baskervilles, Fleischmanns und
F о urn iE RS, die er dann selbstübertraf. Seine Schriften und
der Druck seiner Klassikerausgaben brachten ihm die un¬
eingeschränkte Anerkennung seiner Zeitgenossen und die
Bewunderung der Gegenwart. Die Eigenart der Schriften
BoDONis bestand ähnlich wie bei Didot in dem ausge¬
prägten Gegensatz von feinen und fetten Strichen. Leser¬
lichkeit und Harmonie zeichnen seine Figuren aus. Ihre
Repräsentation und ihre ausgewogene Form erscheint viel¬
leicht etwas zu kühl, zu vollendet, zu abgezirkelt, aber auf
jeden Fall gelingt es Bodoni, ebenso wie Didot und
Baskerville, das Typische seiner Nation in den Formen
seiner Schriften ebenso wie in der Typografie seiner Bücher
auszudrücken.
Vergleiche die Abbildungen auf den Seiten 192 bis 194
183