Die Entdeckung und Erfindung neuer Schreibwerkzeuge
verläuft nicht spontan, sondern erfolgt dann, wenn ein ge¬
sellschaftliches Bedürfnis vorhanden ist, hängt also letztlich
von der Entwicklung der Gesellschaft ab. Papyrus und Per¬
gament erwiesen sich erst durch das gesteigerte Schreib¬
wesen der Sklavenhalterstaaten als notwendig. Zu Homers
Zeiten konnte die Buchdruckerkunst nicht erfunden wer¬
den, erst eine bestimmte Stufe der Manufaktur schuf die
technischen Voraussetzungen und das Bedürfnis nach einer
schnellen und billigen Verbreitung der Literatur. Die Ent¬
wicklung der Schreibwerkzeuge als kleinen Teils der Pro¬
duktionsinstrumente ist eine der Ursachen, die dazu bei¬
tragen, daß dem Stand der Produktivkräfte entsprechende
Eigentums- und Arbeitsverhältnisse geschaffen werden.
Ohne Preßbengel war der Bauernkrieg in dieser Form un¬
denkbar, und die Schnellpresse Königs sowie das Zei¬
tungswesen hatten großen Einfluß auf die sozialen Revolu¬
tionen des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der Ausdruck der Schriftformen ist aber keineswegs nur
durch die verwendeten Schreibwerkzeuge erklärbar, die
stilbestimmenden Faktoren müssen in den gesellschaft¬
lichen Formationen gesucht werden, in denen diese Stil¬
perioden entstanden. AufwelchemWege die gesellschaftlich
herrschende Klasse einen ihr gemäßen kollektiven Schrift¬
stil bevorzugte oder durchsetzte und auf die Übereinstim¬
mungen und Differenzierungen des Schriftstils mit den
herrschendenpolitischen, religiösen, juristischenundkünst-
lerischen Auffassungen wird noch einzugehen sein. Mög¬
licherweise wirken auf unser heutiges Urteil auch Assozia¬
tionen zwischen der Literatur einer geschichtlichen Periode
und der spezifischen Schriftform, in welcher diese Literatur
überliefert wurde.
Die Unziale entspricht dem Geist der Spätantike und des
frühen Christentums, die Gotisch dem der mittelalter¬
lichen Religiosität, Schwabacher und Renaissancefraktur
spiegeln den Geist des erwachenden deutschen Bürgertums
wider, und die Grotesk und Egyptienne werden von der
kapitalistischen Reklame gefördert.
Es zeigt sich jedoch, daßmitunter Jahrhunderte dieSchrift
nur unwesentlich beeinflussen, während andererseits in
wenigen Jahrzehnten eine völlige Veränderung des Schrift¬
bildes eintreten kann. Von vielen möglichen Beispielen
soll hier die Fraktur genannt werden, deren plötzliches
Auftreten in älteren paläografischen Werken mit Verwun¬
derung festgestellt wird, die sich danach fast drei Jahrhun¬
derte kaum veränderte und dann wiederum in wenigen
Jahren zur klassizistischen Fraktur wurde.
Fortschrittliche Klassen, die an der Entwicklung der Pro¬
duktivkräfte interessiert sind, fördern das Schreibwesen,
die Lesekunde und die Volksbildung. Zur Macht gekom¬
men, sind sie bestrebt, der Schrift eine ihrer ästhetischen
Auffassung entsprechende repräsentative Form zu geben.
In ihrer Verfallsperiode hingegen ist die herrschende Klasse
unfähig, die Schrift schöpferisch weiterzuentwickeln. Sie
klammert sich greisenhaft an die alten, ihr vertrauten und
heiligen, längst aber von der vorwärtsdrängenden Ent¬
wicklung überholten Figuren. Die Priester des Pharaonen¬
staates, die die Mathematik und Astronomie zu so hoher
Blüte entwickelt hatten, versuchten durch Jahrtausende,
die Vereinfachung der Hieroglyphen zu verhindern. Ähn¬
liche konservative Bestrebungen zeigen die Kurialschrift
der päpstlichen und die Urkundenschrift der kaiserlichen
Kanzleien, deren Schriftformen sich jahrhundertelang
durch schwere Lesbarkeit auszeichneten (siehe S. 50).
Ein weiteres Phänomen der Schriftentwicklung besteht
darin, daß neue Schriftformen, die in der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung ihrer Geburtsstunde für eine be¬
stimmte Idee engagiert waren, später, nachdem diese Aus¬
einandersetzungen nicht mehr aktuell waren, auch für
ganz andere Ideen eingesetzt wurden. Zu Zeiten Martin
Luthers wäre es undenkbar gewesen, eine Lutherbibcl in
einer Antiquaschrift zu drucken, heute ist dies selbstver¬
ständlich. Für die Gegenwart spielen frühere geistige Be¬
ziehungen der Schriftformen offenbar kaum noch eine
Rolle, ziemlich willkürlich werden historische Buchstaben
ausgegraben und für gegensätzliche Texte eingesetzt.
Von eminenter Bedeutung für die Entwicklung der
Schrift war die Religion oder besser die Glaubensorganisa¬
tion oder Kirche. Mit dem militärischen Siegeszug des Islam
wurde die arabische Schrift zu den Gläubigen gebracht.
Die Gebiete, in denen die lateinische und die kyrillische
Schrift geschrieben werden, entsprechen etwa dem frü¬
heren Einflußbereich der römisch-katholischen und der
russisch-orthodoxen Kirche. Selbst kleinere Unterschiede
im religiösen Ritus, wie sie etwa zwischen den russischen,
bulgarischen und serbischen Orthodoxen bestehen, wer¬
den auch durch kleinere Unterschiede in der Schrift dieser
Länder widergespiegelt. Durch Jahrhunderte waren die
Priester die maßgeblichen Schriftkundigen, und das Reli¬
gionsbekenntnis war auch ein Schriftbekenntnis. Dies leuch¬
tet vor allem dann ein, wenn sich die Religionen auf
schriftliche Offenbarungen gründen wie bei den Juden
(2. Mose 32,15-16) oder bei den Ägyptern, die Thot als den
Gott der Schrift verehrten, oder bei den Buddhisten, nach
deren Überlieferung Brahma die Schrift erfand. Diese be¬
stimmende Stellung der Kirchen wurde erst durch die Ver¬
breitung der Lesekunde in den Städteschulen des Mittel¬
alters und Gutenbergs Erfindung eingeschränkt und ver¬
liert in der Gegenwart weiter an Bedeutung.
Die vorwärtsdrängende Tendenzzum schnelleren Schrei¬
ben und besseren Lesen kommt vor allem in der Hand¬
schrift oder Kurrent zum Ausdruck, die dem Schreiben von
Briefen und Notizen dient. Die Kurrent will lediglich Ge¬
danken festhalten oder an andere vermitteln. Sie entsteht
im allgemeinen ohne die Absicht einer schönen Gestaltung
und hat dadurch eine gewisse Beziehung mit dem einfachen
Sprechen. Obwohl ihre Formen teilweise harmonisch und
reizvoll sind, wird man die Handschrift in ihrer Gesamtheit
kaum zur Schriftkunst zählen dürfen, aber beide stehen
in engem und wechselseitigem Austausch. Die Handschrift
erfindet stets neue Möglichkeiten des schnellen und zügi¬
gen Schreibens. Sie vereinfacht die Buchstaben, macht sie
IO
gelenkiger und fördert ihre Verbindungsfähigkeit. Spontan
entspringen ihr neue Formen, die später von der künstle¬
rischen Schrift kritisch ausgewählt, übernommen und ver¬
edelt werden. Die Grundformen der Unziale und Halb-
unziale als Buchschrift entwickelten sich schon Jahrhunder¬
te vorher in der römischen Kursiv. Typische Figuren der
Schwabacher findet man bedeutend früher in der gotischen
Handschrift. Die Renaissance-Antiqua und -Kursiv hatten
ihren Ursprung in älteren humanistischen Handschriften.
Offensichtlich sind es progressive, einer Steigerung der
Produktion fähige und an einer Veränderung der Produk¬
tionsverhältnisse interessierte Klassen und Schichten, wel¬
che die Formen der Schrift vereinfachen. Man kann an¬
nehmen, daß zuerst rein praktische Motive sie veranlassen,
die umständlichen Formen abzuschleifen. Die Geschäfts¬
und Handelskorrespondenz erfordert im allgemeinen ein
schnelles Schreiben; die Vereinfachung der Zeichen be¬
deutet eine Steigerung der Schreibleistung. Die ästhe¬
tischen Vorstellungen von der Buchschrift werden durch
die eigene Handschrift beeinflußt, und dadurch wird das
Eindringen handschriftlicher Tendenzen in die künstle¬
rische Schrift erleichtert. Umgekehrt beeinflußt die künst¬
lerische Buchschrift auch die Handschrift.
Unter Schriftkunst kann man solche Inschriften, Buchschriften,
Satçschriften und Schriftanwendungen zusammenfassen, die mit
manueller Meisterschaft gemacht sind und den Text nicht nur
lesbar machen, sondern emotionale Eindrücke vermitteln. Es ist
anzunehmen, daß solche Schriften aus der Absicht entstan¬
den sind, den Grundgedanken einer Zeit ein repräsentatives
Gewand zu geben. Den Mönchen des Mittelalters war das
Abschreiben frommer Texte eine heilige Handlung, eine
Art Gebet ; dies äußerte sich in der sakral wirkenden Tex¬
tur. Die «heitere Freigeisterei» der Humanisten, von der
Engels spricht, zeigt sich in der Kursiv der Renaissance.
Auch die Schriftkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts
schufen ihre Figuren unter dem Einfluß einer bestimmten
ästhetischen Auffassung und im Hinblick auf einen be¬
stimmten Zweck. E.R.Weiss gestaltete seine Antiqua als
Form und Gefäß der klassischen und modernen Literatur,
Rudolf Koch entwarf seine gotischen Schriften als Ge¬
wand der Bibel, und einige moderne Schreibschriften ent¬
standen als Zweckform der Reklame. Die Weltanschauung
und die Ideen des Künstlers spielen eine maßgebende Rolle
für den Ausdruck der Schrift. Ohne Ideengehalt ist eine
emotionale Wirkung ausgeschlossen. Auch die persön¬
lichen Ideen sind im Grunde gesellschaftliche, aber sie tref¬
fen nur dann das Typische, wenn sie das sich Entwickelnde
kennzeichnen. Zur Schriftkunst gehört also eine künst¬
lerische Verallgemeinerung des Neuen in der Handschrift.
Eine Unterschätzung des persönlichen Ausdrucks führt da¬
bei zu Verarmung und Langeweile, eine Überschätzung
zufälliger Züge zum Individualismus.
Die Ausdrucksmöglichkeiten der Schriftkunst sind be¬
schränkt. Sic erstrecken sich auf die grafische Darstellung
3 Behrens, Peter: Von der Entwickhing der Schrift. Schriftprobe
der Rudhardschen Gießerei. Offenbach 1902.
eines bestimmten Grundgehalts allgemeiner menschlicher
Äußerungen, wie des Ernsten, des Heiteren oder Be¬
schwingten, des Harmonischen, Schmiegsamen oder Exak¬
ten; sie können Zuversicht und Optimismus ausdrücken.
Umgekehrt vermag eine schlechte Schrift Gefühlskalte
oder Langeweile zu vermitteln. Eines der schwierigen Pro¬
bleme ist es, die besondere nationale Form der Schrift zu
untersuchen. Es ist eine Tatsache, daß das Schriftschaffen
der Antiqua schreibenden Völker in ständigem Austausch
erfolgt. Jedoch kann daraus nicht gefolgert werden, daß es
keine nationalen Besonderheiten in der Schriftform gäbe.
Schließlich entwickelten sich auch die Architektur, die Mu¬
sik und die bildende Kunst in den Ländern Europas ge¬
meinsam, und doch prägte jedes Volk seinen eigenen natio¬
nalen Ausdruck. Viele bedeutende Schriftkünstler wiesen
auf die nationale Eigenart der Schrift hin. Die nationale
Form ist ein Beitrag, den jede Nation zum Reichtum der
Weltkultur beisteuert, und trotz gewisser Erscheinungen
übernationaler Formen, vor allem bei Groteskschriften,
wird es auch in der Zukunft noch Schriften geben, die das
Temperament, den persönlichen und nationalen Stil des
Autors ahnen lassen.
Häufig und mit Recht wird auf die engen Beziehungen
zwischen der Entwicklung der Schrift und der Architektur
hingewiesen. Auch die Architektur dient in erster Linie
einem praktischen Zweck. Sie ist von der Entwicklung der
Bautechnik ebenso abhängig wie die Schrift von der Ent¬
wicklung der Schreibwerkzeuge, aber entscheidend für die
Architektur und die Schriftkunst sind immer die herr¬
schenden ästhetischen Ansichten. Beide Künste sind nicht
in der Lage, wie zum Beispiel die Literatur und die Malerei,
mit ihren spezifischen Mitteln eine Kritik an herrschenden
gesellschaftlichen Zuständen zu üben. Doch vermögen sie,
wie kaum eine andere Kunstform, die herrschende Gesell¬
schaft zu repräsentieren. Der Architekt und Schriftkünstler
Peter Behrens äußerte sich über diese Zusammen¬
hänge: «Wie sich in der Architektur ein voller Schein des
ganzen Wogens einer Zeit und des äußeren Lebens eines
Volkes widerspiegelt, so deutet die Schrift Zeichen inneren
Wollens, sie verrät von Stolz und Demut, von Zuversicht
und Zweifel der Geschlechter.»3
Auch die bildenden Künste wirken auf die Formen der
künstlerischen Schrift ein. In China beherrscht jeder Maler
die Kalligrafie, und die Ausdrucksmöglichkeiten der Male¬
rei werden auf die Schriftkunst ausgedehnt.
In Europa beschäftigten sich während der Renaissance
bedeutende Maler wie Leonardo da Vinci und Al¬
brecht Dürer mit den Formen der Schrift. SeitderJahr¬
hundertwende wandten sich wieder Maler der Schrift¬
gestaltung zu, doch von einer direkten Beeinflussung der
Schriftformen durch die Malerei kann kaum gesprochen
werden. Eine hohe Qualität erlangte die Schrift, die von
Bildhauern und Steinmetzen an Denkmalen und Grab¬
steinen eingemeißelt wurde, aber nur die römische In¬
schriftenschrift hatte nachhaltigen Einfluß auf die Entwick¬
lung, meistens wurden die bereits bekannten Schriften
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