EINLEITUNG
Körper und Stimme verleiht die Schrift
dem stummen Gedanken,
durch der Jahrhunderte Strom
trägt ihn das redende Blatt.
Friedrich Schiller
D¡
*ie Schrift als Mittel der Kommunikation vermag durch
ihre Form auch ästhetisch zu wirken, sie kann der Aussage
Eigenart vermitteln, die deren Wert in gewissen Grenzen
negativ oder positiv beeinflußt. In der Gegenwart, in der das
Tempo der wissenschaftlichen Kommunikation den tech¬
nischen Fortschritt immer stärker bestimmt, orientieren
sich Buchhersteller und Wissenschaftler auf eine optimal
lesbare Schrift. Doch welche Faktoren bedingen die gute
Lesbarkeit?
Die Psychologie hat längst erkannt, daß die Schrift nicht
nur Text vermitteln, sondern durch ihre Form auch emo¬
tionell auf den Leser einwirken kann. Aber man gewinnt
den Eindruck, daß manche Grafiker häufig nur einer Mode
oder einer zufälligen Eingebung folgen, wenn sie eine
Schrifttype wählen, und daß ihr Wissen um die ästhetischen
Zusammenhänge nicht fundiert ist. Wir sind täglich von
Buchstaben umgeben. In den Zentren der modernen Gro߬
städte wird man zur Tages- und Nachtzeit von Werbetex¬
ten und Leuchtschriften angesprungen, in der Zeitung und
im Buch sehen wir durch die Texte, die die Buchstaben
vermitteln, auf das Geschehen in anderen Ländern und er¬
fahren von Gedanken anderer Generationen, Beschriftun¬
gen auf Packungen und Etiketten geben Auskunft und ver¬
suchen zu überreden. Wohl noch nie war ein Zeitalter so
eng mit der Schrift verbunden wie das unsere. Was aber
wissen wir von der Kultur der Schrift, was von der Kunst
der Schrift?
Nun gibt es eine Reihe von Wissenschaften, denen die
Schrift Material für ihre Erkenntnisse schafft. Die Philo¬
logie mit ihren verschiedenen Sachgebieten, der Ägypto¬
logie, der Semitologie usw., beschäftigt sich mit den schrift¬
lich überlieferten Kulturdenkmälern. Der Gegenstand der
Paläografie sind die alten Schriften, und die Papyrologie,
die Diplomatik und die Numismatik beleuchten einige
Randgebiete der Schrift. Von einer völlig anderen Seite be¬
trachtet die Grafologie unseren Gegenstand, und wir soll¬
ten ihr interessante Einblicke nicht abstreiten.
Aber es wäre von einem Praktiker zuviel verlangt, wenn
er sich, um Schriften richtig anwenden zu können, in all
diese Probleme einarbeiten sollte. Die Begrenzung unseres
Themas ergibt sich aus dem Zweck des Buches. Der Be¬
nutzer eines Fachbuches wird kein abschweifendes Ein¬
gehen auf interessante wissenschaftliche Streitfragen über
die Entstehung der Schrift und die Hypothesen des Über¬
gangs der Keilschrift oder der Hieroglyphen zur semiti¬
schen Schrift erwarten. Er braucht eine einleuchtende In¬
terpretation der gewachsenen Formen, die er noch in der
Gegenwart verwenden kann. Die Geschichte der Schrift in¬
teressiert nur soweit, wie sie die Metamorphose der heute
noch für die breite Kommunikation benutzbaren Buch¬
staben erklärt.
Die Art und die Richtung der Formveränderung der
Schrift ist jedoch auch bedeutsam für die weitere Entwick¬
lung der Buchstaben. Werden wir zu einer Einheitsschrift
für alle Sprachen kommen? Oder wenigstens zu einer ein¬
heitlichen Druckschrift für alle Druckerzeugnisse des An¬
wendungsbereichs der lateinischen Schrift. Oder ist schon
eine Epoche in Sicht, in der nur Computer lesen und schrei¬
ben, in der wir elektronisch fixierte Tonspuren in die ver¬
schiedensten gewünschten Sprachen übersetzt und vorge¬
tragen bekommen und in der kombinierte Hör-Schreib-
Setz-Computer, die nach den Regeln der Grammatik und
Zeichensetzung programmiert wurden, schon nicht mehr
die herkömmlichen Bücher, sondern elektronische Litera¬
tur- und Wissensspeicher fertigen, die wieder auf Wunsch
zu sprechen beginnen?
Wir müssen wohl auch diesen Möglichkeiten ins Auge
sehen, aber in den nächsten Jahrhunderten werden wir die
Schrift und das Lesen noch nötiger haben als je zuvor. Die
gesamte menschliche Kultur ist auf das Hilfsmittel Schrift
aufgebaut, sie ist selbst ein Stück dieser Kultur und ver¬
dient als solche die Wertschätzung und Unterstützung der
Öffentlichkeit. Die Form der Buchstaben sollte mit Inter¬
esse beobachtet werden, denn die Schrift ist ein Transport¬
mittel der Sprache und der Gedanken, und in diesem Sinne
kann es nicht gleichgültig sein, ob für die geistige Fracht
ein ungeeignetes Vehikel oder ein modernes, passendes und
schönes Fahrzeug eingesetzt wird.
Zum andern bietet die Schrift einen ebensolchen Reich¬
tum an Ausdrucksmöglichkeiten wie manche andere Kün¬
ste, wie etwa die Architektur. Sie gewinnt durch ihre Nach¬
barschaft zur Literatur geistige Werte. Zweifellos hängt die
S
Lesbarkeit der Schrift auch ab von der Sympathie, die der
Leser bewußt oder unbewußt für die Buchstaben empfindet
und die sicher auf den Proportionen, der Harmonie und
dem Zusammenhang der Buchstaben mit überlieferten
Vorstellungen beruht. Schrifthaftes kann eine ungeheure
suggestive Kraft ausstrahlen, Leselust und Neugier auf das
Geschriebene und Gedruckte erwecken.
Sprache und Schrift sind Mittel zur Verständigung des
Menschen in der Gesellschaft. Schrift ist die durch Zeichen
optisch fixierte Sprache. Schriftkunst ist die durch Zeichen op¬
tischfixierte Sprache, die in meisterlicher Form Lesbarkeit, orna¬
mentale Schönheit und A usdruckskraft vereint. Zwischen Schrift
und Schriftkunst besteht ein ähnlicher Unterschied wie zwi¬
schen der Umgangssprache und der künstlerisch geformten
Sprache. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die
künstlerische Schrift, die jedoch in engem Zusammenhang
mit dem Schreiben und der Schrift überhaupt steht.
Vielerlei Faktoren wirken auf die Formen der Schrift und
rufen ihre stetige Veränderung hervor: die Sprache, die
Literatur, die Volksbildung, die Organisation des Staates,
des Handels, der Religion und der politischen Agitation,
die Architektur und die bildenden Künste. Die Schriftfor¬
men sind außerdem von den Schreibwerkzeugen abhängig.
Zu diesen gehören auch sämtliche Maschinen, mit denen
Schrift geschnitten, gegossen, gesetzt und gedruckt wird.
Die Schrift berührt also fast alle Gebiete des Lebens. Beim
Betrachten und Abwägen dieser verschiedenartigen Ein¬
flüsse zeigt sich die Kompliziertheit des zu behandelnden
Gegenstandes.
Ein direkter Zusammenhang besteht zweifellos zwischen
Schrift und Sprache. Die Sprache dient dem Erfahrungs¬
und Gedankenaustausch. Sic ist «die unmittelbare Wirk¬
lichkeit des Gedankens».1 Ihre Bedeutung ist viel umfas¬
sender als die der Schrift, sie ist das unentbehrliche Ver-
ständigungsmittel des Menschen, aber sie verhallt nach
dem Sprechen; erst die Schrift verleiht dem Gedanken
Dauer und trägt ihn über größere Entfernungen.
Die Lautgebung der jeweiligen Sprache kann das System
der Schrift bis zu einem gewissen Grade beeinflussen. So
erschwert die chinesische Sprache mit ihren vielen einsil¬
bigen Wörtern die Übernahme der lateinischen Schrift,
weil bei den vielen gleichlautenden Wörtern mit verschie¬
dener Bedeutung Verwechslungen drohen. Wenn ein Volk
die Schrift eines anderen Sprachgebietes übernahm, änderte
es häufig dieLautbedeutungder alten Zeichen für die eigene
Sprache oder schuf abgewandelte oder zusätzliche Zeichen
und Akzente. Die künstlerische Formgebung jedoch kam
aus anderen Quellen.
Für die Bildung der Nationalsprache hatte die Schrift eine
besondere Bedeutung, denn erst die Schriftsprache war im-
i Marx, Karl, und Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Berlin
1953.
2 Gorki, Maxim, zitiert nach Bogumil Rainoff: Studienmaterial
für die künstlerischen Lehranstalten. Reihe Ästhetik. Berlin 1953.
Heft 11, Seite 31.
Stande, den sich ständig verändernden Dialekten den ru¬
henden Pol zu geben, und auf diese Weise reflektierte die
von der Sprache abhängige Schrift wieder zurück auf die
Sprache.
Völlig anders wirken die Schreibwcrkzcuge auf die
Schriftformen. Ihre Erfindung wird durch die Entwicklung
der Produktivkräfte, also durch die Menschen selbst mit
ihren Produktionserfahrungen und ihrer Arbeitsfertigkeit
und den Produktionsinstrumenten, beeinflußt. Das erste,
einfachste Schreibwerkzeug war die menschliche Hand;
sie war der Anfang für jede weitere Vervollkommnung der
Werkzeuge. «Der Prozeß des gesellschaftlich-kulturellen
Wachstums entwickelte sich normal nur dann, wenn die
Arme den Kopf lehren, wenn darauf der klug gewordene
Kopf die Arme lehrt und die klugen Arme wieder und noch
stärker die Entwicklung des Gehirns fördern.»2 Diese tref¬
fende Bemerkung Maxim Gorkis kann auch auf die Ent¬
wicklung der Schreibwerkzeuge und der Schrift bezogen
werden. Die Hand lehrt das Auge, und dieses wiederum
korrigiert die schreibende Hand. Also wachsen ästhetische
Erkenntnisse zur Schriftgestaltung mit dem Schreiben. Die
Keilschrift wurde geformt vom Einprägen der Schreib¬
hölzer in Tontafeln, die römische Kapitale erhielt ihren
Ausdruck durch Spatel und Meißel. Papyrus und Calamus
wurden abgelöst von Pergament und Kiel, und erst diese
ermöglichten die klare Unterscheidung von Haar- und
Schattenstrichen, die den meisten unserer heute verwen¬
deten Schriften das Gepräge geben. Die Werkzeuge ent¬
wickelten sich nach den Schreiberfahrungen zu immer grö¬
ßerer Vollkommenheit. Durch zweckmäßiges und werk¬
zeuggerechtes Schreiben bildete jede dieser Stufen eine
entspechende Form. Zweckmäßigkeit des Schreibens und
Schönheit der Schrift stehen in enger Beziehung. Von be¬
stimmender Bedeutung für die Entwicklung der Schrift
war die Erfindung Johann es G Utenbergs. Die geprägte
Type verlangsamte die Veränderung der Grundformen
um so mehr, je stärker sich die Kenntnis des Lesens und
Schreibens verbreitete. Durch die Anwendung des Stichels
wurde die Antiqua exakter, die Fraktur dagegen geschwun¬
gener und freier. Der Kupferstich als Reproduktionstechnik
für die Schreibbücher des Barocks führte zur zunehmenden
Betonung des Gegensatzes zwischen Haar- und Schatten¬
strichen in der Antiqua. Die Linotype-Setzmaschine ver¬
langt eine gleiche Breite der entsprechenden Antiqua- und
Kursivformen und verändert dadurch die Figuren der
Kursiv.
Sind nun die Einflüsse der Schreibwcrkzcuge und des
Schreibmaterials entscheidend für die Vcränderungdcr For¬
men? In den früheren Epochen scheint der Einfluß der
Schreibwerkzeuge formbestimmender gewesen zu sein als
in der Gegenwart. Heute ist der Einfluß der ästhetischen
Ansichten bedeutsamer, entstanden doch so verschieden¬
artige Entwicklungstendenzen wie die Richtung der Scha¬
blonen- und Skelettschriften des Weimarer Bauhauses und
der Schriften von Stanley Morison und E. R.Weiss un¬
ter gleichen technischen Bedingungen.
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