DIE SCHRIFTEN DER GOTISCHEN STILPERIODE
Im zwölften bis fünfzehnten Jahrhundert festigte sich der
Feudalismus in Mittel- und Westeuropa. Die Kriege und
Kreuzzüge stärkten die Stellung der Ritter und der Königs¬
macht. Das «Heilige Römische Reich» wurde zum mächtig¬
sten Staat in Europa und das Papsttum zum religiös und
geistig bestimmenden Faktor. Aber bereits in der Hoch¬
gotik, während der scheinbar gefestigten Herrschaft des
Feudalismus, entwickelten sich Elemente des neuen Über¬
baus der bürgerlichen Gesellschaft.
Die gotischen Schriften umfassen folgende Arten: die
frühgotische Schrift und die nebeneinander auftretenden
Schriften der Hoch- und Spätgotik, die gotische Buchschrift
und Textur, die gotische Bastardschrift, die gotische Kur-
rent, die Rundgotisch, die Gotico-Antiqua und die ent¬
sprechenden Typen Guten be rgs und der anderen Früh¬
drucken
Die Zentren der Kultur waren immer noch die Klöster.
Sie waren unabhängige Produktionsgemeinschaften, in de¬
nen Handwerker vieler Berufe als Laienbrüder beschäftigt
waren. Die offizielle Philosophie der katholischen Kirche,
die Scholastik, entstand in den Klöstern. In den Kloster¬
schulen erlernten die Söhne der Ritter, die Geistliche wer¬
den sollten, das Lesen und Schreiben. In jedem Kloster
wurden von einigen Mönchen alte Texte abgeschrieben.
Diese Arbeit galt als eine Art Gottesdienst. Die Mönche
hatten beim Schreiben keine Eile. Sie schrieben zur Ehre
Gottes. Nur so lassen sich auch die Formen der schwer les¬
baren, aber dekorativen Textur erklären.
Das Neue des Mittelalters entstand abseits von Burgen
und Klöstern in den Städten. Die vom Frondienst befreiten
Handwerker schufen sich eine eigene, städtisch-bürgerliche
Kultur. Neben der höfischen entfaltete sich eine bürger¬
liche Literatur. Schwanke und Fastnachtsspiele kritisierten
das Faustrecht des Adels. Als Gegenstück zum Minnesang
entstand der Meistersang der Handwerkerschichten.
Bürger und Kaufleute waren mit den Klosterschulen un¬
zufrieden. Ihnen genügte es nicht, den Katechismus zu be¬
herrschen ; sie wollten, daß ihre Kinder gut rechnen und
schnell schreiben lernten. In den Städten entstanden eigene
Schulen.in denen von derStadt angestellte oder selbständige
Schulmeister unterrichteten. Im dreizehnten Jahrhundert
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Keine Kunst braucht ^itr Vollendung mehr Liebe als die Kunst
der Letter, keine mehr Innerlichkeit und mehr Demut. Sie selbst
denkt nicht ans Strahlen. Das unsichtbar Geistige soll leuchten.
Die Wortwunder der Dichter und Weisen werden durch sie
lebendig und geben ab von ihrem Mut, ihrem Märchenglanze,
ihrer Wahrhaftigkeit und Kraft jedem, der will.
Christian Heinrich Kleukens
verdreifachte sich die Zahl der Städte. In stärkerem Maße
wurde die Geldwirtschaft eingeführt. Im Kampf der Städte
gegen die Feudalherren und deren Fronvögte errang ein
Teil der Städte Selbständigkeit. Während in England und
Frankreich durch das Bündnis der Zentralmacht mit den
Städten geeinte Staaten entstanden, überließen die deut¬
schen Kaiser ihre Städte der Willkür der Fürsten. In Deutsch¬
land blieb die feudale Zersplitterung noch über Jahrhun¬
derte bestehen.
Auf die Formen der Buchschriften hatte die kulturelle
Entwicklung in den Städten vorerst nur geringen Einfluß.
Das Abschreiben von Büchern blieb weitgehend den Skrip-
torien der Klöster vorbehalten.
Die frühgotische Buchschrift entstand unmerklich aus der
spätkarolingischen Minuskel. Seit dem Ende des elften
Jahrhunderts zeigten sich Veränderungen in Figuren der
karolingischen Schrift. Erst erhielten die Schäfte einzelner
Buchstaben, des i, n, m und anderer, kleine An- und End-
striche. Diese wurden im Laufe der Zeit verstärkt und aus
dem Abstrich heraus umgebogen. Gleichzeitig schrieb man
die Buchstaben schlanker und rückte sie zusammen. Aus der
Kreisform des О wurde eine Ovalform, und das gesamte
Schriftbild verdunkelte sich. Die erst durch Federdruck
entstandenen Strichanfänge wurden durch ein nochmaliges
Ansetzen der Feder verstärkt. Dabei kam es vor, daß am
oberen Schaftende eine leichte Gabelung entstand.
Es gab immer noch keine zur Minuskel passenden Gro߬
buchstaben. Vorläufig wurden hierfür Figuren der Unziale
und bei den in zunehmendem Maße schmaler laufenden
Schriften Figuren der Rustika verwandt. Man findet häufig
bereits sogenannte Kapitälchen ; das sind Großbuchstaben,
die nur die Mittelhöhc der Gemeinen erreichen und zur
Kennzeichnung der Kapitelanfänge für das erste oder die
ersten Wörter verwendet werden. Die Spaltung der oberen
Schaftenden griff auch über auf die Großbuchstaben, und
damit beginnt deren weittragende Veränderung in der
Gotik. Unzial-, Rustika- und Kapitalformen vermischten
sich je nach der besonderen Schreibschule oder der Persön¬
lichkeit des Schreibers. Die überlieferten Figuren began¬
nen sich zu verändern. Sie wurden lebendiger und lassen
die Umrisse der späteren gotischen Versalien ahnen.
Vergleiche die Abbildungen auf Seite jo und yi
Seit dem dreizehnten Jahrhundert kann man allgemein
von einem gotischen Stil in der Schriftkunst sprechen. Er
kam vom Westen, aus Nordfrankreich und England. Mit
demBau eines derfrühestengotischenBauwerke.der Kathe¬
drale Notre Dame in Paris, wurde 1163 begonnen. Noch
früher (1140 bis 1143) entstand die gotische Gruftkirche in
Saint-Denis. Im Osten Deutschlands und in Österreich setz¬
ten sich die Gotik in der Architektur und das Prinzip der
Brechung in der Schrift erst später durch. Dadurch ergaben
sich beachtliche landschaftliche Unterschiedein den Schrift¬
formen.
In der Buchschrift erfahren erst die Kleinbuchstaben eine
leichte Brechung, die durch die Betonung der bereits frü¬
her bekannten An- und Endstriche eingeleitet wird. Bei
verschiedenen Textschriften wurde auf die Brechung der
Füße verzichtet und der Abstrich horizontal mit einer leich¬
ten Einkehlung abgeschlossen. DiewaagerechtbetonteFuß-
linie bildet einen feinen Gegensatz zu den aufwärtsstreben¬
den Formen. Aber jede Betonung der Horizontalen wurde
durch die weitere Entwicklung überwunden. Auch die
Füße bekamen ihre schrägen Endstriche. Das Prinzip der
Brechung wurde immer weitgehender durchgeführt. Am
schwersten fiel es dem Schluß-s, alle Rundungen auszu¬
merzen. Der Zeilenabstand verkleinerte sich, und das
Schriftbild wurde zum einheitlichen, dunklen, durch dop¬
pelte Rautenketten gewebten Teppich, dessen Fläche nur
unterbrochen war von den schmalen Zeilenzwischen¬
räumen und den reicher gestalteten Versalien.
Die Buchstaben wuchsen zusammen; es bildeten sich
Ligaturen. Das e und das о haben häufig ihren linken Schaft
mit dem rechten Schaft des vorangegangenen b, h und p ge¬
meinsam. Durch diese Anschiebung verschmolzen später
auch v, w, g und q mit dem Nachbarn. Aus dem ehemali¬
gen Antiquaversal R, der bereits in der Karolingerzeit mit
seinem linken Abstrich an den vorangehenden Buchstaben
(vor allem das O) angehängt wurde, entwickelte sich jetzt
durch Weglassen des linken Schaftes ein zweites Minus-
kel-r, das immer nach Buchstaben mit früheren Rundun¬
gen, also b, p, о und ähnlichen, verwendet wurde. Zur
Unterscheidung der vielen gleichlaufenden gebrochenen
Schäfte führte sich langsam ein i-Haken als Vorläufer des
i-Punktes ein.
Zum ersten Male paßten sich die Versalien dem einheit¬
lichen Schriftrhythmus an. Bereits früher wurden zur Mi¬
nuskel Rustikafiguren als Großbuchstaben verwendet. Da
die Federhaltung der Rustika derjenigen der gotischen
Kleinbuchstaben gleichkam, lag es nahe, das Prinzip des
Brechens auch auf die Versalien zu übertragen. Zum Fül¬
len entstehender Lücken in den ehemaligen Rustikafiguren
verdoppelte man erst bei Versal I, О und Q den Abstrich
und übertrug dieses Prinzip später auf andere Großbuch¬
staben. Die Versalien wurden reicher und erhielten feine,
teilweise auch geschweifte Zierstriche. Die Phantasie der
gotischen Schreiber begeisterte sich besonders an den goti¬
schen Großbuchstaben und erfand eine Vielzahl neuer ge¬
schmückter Formen.
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Abbildung 88 Frühgotische Buchschrift
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Abbildung 90 Gotische Buchschrift
Abbildung 91 Mittelalterliches Skriptorium
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