die ihr entsprechende Form gefunden, und die Lesbarkeit
hat sich gegenüber allen vorangegangenen Epochen ent¬
schieden verbessert. Durch die Verbindung der Schulter¬
gelenke, den gleichmäßigen Rhythmus der Rundungen
und einheitliche Druckstellen ergibt sich die Verbindung
der Einzelbuchstaben zum Wortbild. Ober- und Unter¬
längen sind fast völlig ausgebildet. Aber noch sind die Buch¬
staben im allgemeinen niedrig und breit, insbesondere die
Buchstaben t, a, z und f haben häufig noch den Charakter
der Halbunziale. Das kleine runde s wird erst in den folgen¬
den Jahrhunderten gebildet, vorläufig verwendet man das
leichter schreibbare lange s. Fast alle Buchschriften dieser
Zeit zeichnen sich durch einen natürlichen Rhythmus aus.
Im Frankenreich treten besonders zwei Schreibschulen
hervor. Im Kloster St. Martin bei Tours wurden die älteren
Schriften wiedererweckt und gepflegt; die Kapitale, Un¬
ziale und Halbunziale. Die typische touronische Minuskel
hatte breite, niedere Mittelhöhen und hohe, oben keulen¬
förmig verstärkte Oberlängen. Die kaiserliche Palastschule
in Aachen mit dem kunstgeübten Schreiber Dagulf war
die Wiege einiger besonders schöner Handschriften der
Karolingerzeit. Als kulturelles Zentrum des Reiches mag
sie viel zur Verbreitung der neuen Minuskel beigetragen
haben. Im Süden überragten an künstlerischer Qualität
die Klöster Reichenau und St. Gallen.
Die nächsten Jahrhunderte der Festigung des feudalen
Systems brachten auffallend wenig Veränderungen in der
Schriftform. Die karolingische Minuskel wurde weit über
die Grenzen des Frankenreiches anerkannt und in Ober¬
italien, England und Spanien gebräuchlich. Auch Ludwig
der Fromme und Karl der Kahle, die Nachfolger
Karls, förderten die Schreibkunst. Die Schreibschulen der
Klöster wetteiferten um die besten Leistungen beim Ab¬
schreiben klassischer Bücher und religiöser Texte. Nach
einem vorübergehenden Absinken vom Ende des neunten
bis Anfang des zehnten Jahrhunderts blühte die Schrift¬
kunst unter den Ottonen wieder auf. Wie die karolingische
Baukunst in die romanische hinüberwächst und die flache
Decke zum höheren Gewölbe, das kleine Rundbogenfen¬
ster schmaler und höher wird, so verändern sich die nied¬
rigen und breiten Mittelhöhen der karolingischen Minus¬
kel zu schlankeren Formen. Das Gesamtschriftbild wird
durch die geringeren Oberlängen und die schmaleren Zei¬
lenzwischenräume dunkler. Der Gesamteindruck bleibt
großzügig, zweckmäßig, einfach, doch aus dem tastenden
Übernehmen alter Kulturformen wird eine selbstbewußte
Ruhe, und besonders die deutschen Schriften dieser Periode
zeigen eine vollendete Meisterschaft. Bemerkenswert ist
noch, daß seit dem elften Jahrhundert wieder zwei neue
Buchstaben geschrieben werden, das w und das j. Damit
hat das lateinische Alphabet die endgültige Zahl von sechs¬
undzwanzig Buchstaben erreicht.
Als Auszeichnungsschriften wurden in den karolingi¬
schen Handschriften Rustika-, Unzial- und Kapitalformen
verwendet. Auch die herrlichen Initialformen sind diesen
Schriften entnommen und mit Spiralen, Voluten und an-
Abbildung -J2 Flechtwerkinitial und Auszeichnungskapitale
Abbildung 73 Insulare Auszeichnungsschriften
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Abbildung 14 Karolingische Unziale
Vergleiche die Abbildungen auf den Seiten 54 bis 59
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