DIE SCHÖNSTEN SATZSCHRIFTEN DER GEGENWART
In diesem Kapitel werden die schönsten Satzschriften der
Gegenwart, die auf die Bitte des Verlags und des Autors
von fast allen Schriftgießereien der Welt zugesandt wor¬
den sind, in übersichtlicher Form vorgestellt. Dieses Vor¬
haben hatte mehrere Schwierigkeiten. Es liegt nicht im
Interesse des Lesers, sämtliche gegenwärtig angebotenen
und in den Druckereien noch vorhandenen typografischen
Schriften zusammenzufassen.63 Viele der über tausend
Satzschriften sind nicht sonderlich schön, aber es ist unge¬
mein schwierig, unter den guten die schönsten auszu¬
wählen, und dabei können gelegentlich die Meinungen
etwas auseinandergehen. Die meisten Schriften werden in
einer Größe von 24 p gezeigt; die wichtigsten, und diese
Wahl wurde zum größten Problem, werden zusätzlich im
48-p-Grad vorgestellt. In den meisten Fällen wurde von
den Originaltypen gedruckt, häufig waren wir auch auf
Galvanos oder Ätzungen angewiesen. In jedem Falle wurde
die höchste Qualität der Wiedergabe angestrebt.
Ein weiteres Problem besteht darin, die Schriften zu
ordnen. Hierzu wurden in den letzten Jahren eine ganze
Reihe von Systemen vorgeschlagen, die zum Teil mit über¬
lieferten Bezeichnungen im Widerspruch stehen. Dieses
Buch folgt der deutschen Klassifikation, die in der DDR als
TGL 10-020, in der BRD als DIN 16518 bezeichnet wird und
im wesentlichen übereinstimmt. Doch soll erst ein Über¬
blick über ähnliche Klassifikationen und Bezeichnungen in
anderen Ländern vorausgeschickt werden.64
Die Diskussion über eine vernünftige Ordnung und ein¬
leuchtende Bezeichnungen begann bereits um die Jahr¬
hundertwende in den Werken von John Southward
«Practical Printing» (1898), de Vienne «Plain Printing
Types» (1900), sie wurde nach dem ersten Weltkrieg fort¬
gesetzt von F. Thibaudeau «Manuel français de typogra¬
phie moderne» (1924) und D.B.Updyke «Printing Types»
(1922). Schließlich erschienen in den fünfziger Jahren eine
Reihe ausgearbeiteter Systeme in verschiedenen europäi¬
schen Ländern. Maximilian Vox brachte 1954 in einem
Aufsatz «Pour une nouvelle classification des caractères»
ziemlich eigenwillige Vorschläge, und Aldo Novarese
folgte 1957 mit einer Klassifizierung aus italienischer Sicht
«Il carattere: sintese storica, classificazione, accostamento
Die Geometrie kann lesbare Buchstaben hervorbringen, aber ein¬
zig die Kunst verleiht ihnen Schönheit. Die Kunst beginnt, wo die
Geometrie aufhört, und verleiht den Buchstaben einen Charakter,
der nicht meßbar ist. Paul Standard
estetico». Auch der deutschen Klassifikation waren viele
Stellungnahmen und Aufsätze vorangegangen, und es ist
nicht ausgeschlossen, daß es in den nächsten Jahrzehnten
auf diesem Gebiet zu einer internationalen Übereinkunft
kommen wird. Doch betrachten wir nun den gegenwärti¬
gen Stand :
Die vier Klassifikationssysteme stimmen weitgehend
überein. Die Unterschiede in den Bezeichnungen liegen in
der nationalen Entwicklung begründet. Man könnte sich
darüber streiten, ob die ornamentierten Schriften eine be¬
sondere Gruppe bilden sollen, demi es gibt viele lichte und
dekorierte Varianten, die einer Familie zugehören; es wäre
meines Erachtens nicht sinnvoll, z. B. die lichte Futura oder
die schattierte Gill-Grotesk von ihren anderen Varianten
zu trennen. Ähnlich Hegt das Problem bei den Inschriften¬
schriften (Lapidari und Incises), denn auch hier gibt es
mehrere Schriften, die eindeutig zu einer Familie gehören,
man vergleiche nur die Weiß-Initialen und die Weiß-Kapi¬
tale, die eindeutig zur Familie der Weiß-Antiqua gehören.
Alle vier Systeme sind nach den grafischen Merkmalen
der Schrift gegliedert, nach der Form der Serifen, nach den
Gegensätzen zwischen Grund- und Haarstrichen und nach
der Schattenachse der Rundungen. Der Nachteil der Glie¬
derung besteht darin, daß zwischen Antiquaschriften, die in
der Renaissance entstanden sind, und solchen des zwanzig¬
sten Jahrhunderts nicht unterschieden wird. Der Ausdruck
der zeitgenössischen Schriften ist aber oft eindeutig anders,
sie bekennen sich zum Lebensstil unseres zwanzigsten
Jahrhunderts, obwohl Serifenform, die Relation der Strich¬
stärken und die Federhaltung mit den historischen Schrif¬
ten übereinstimmen. Als Beispiele für einen unterschied-
53 Vergleiche das umfassende Werk: Berry, Johnston und Jaspert:
Enzyklopaedia of Type Faces. Third Edition. Blandford Press.
London 1962. Es enthält 1927 verschiedene Schnitte.
54 Eine ähnliche Zusammenstellung mit allerdings unterschied¬
licher Absicht erscheint in: Kapr/Schiller: Gestalt und Funk¬
tion der Typografie. Leipzig 1971.
Eine gute Zusammenfassung der Beiträge zur Klassifikation
bringt: Mosley, James: New Approaches to the Classification of
Typefaces. In : The British Printer. März i960. Auch die nachfol¬
genden Titel sind diesem Aufsatz entnommen.
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Englische
Vorschlag
Vorschlag
Deutsche
Bezeichnungen
Maximilian Vox
Aldo Novarese
Klassifikation
Old Face
Humanes
Lapidari
Renaissance-Antiqua
Venetian Roman
Geraides
Veneziani
Transitional Type
Face
Reales
Transizionaldi
Übergangs-Antiqua
Modern Face
Didones
Bodoniani
Klassizistische Antiqua
Display Type Face
Incises
Fantasie
Varia (Freie Antiqua)
Egytienne/Antiqua
Face
Mecanes
Egiziani
Serifenbetonte Linearantiqua (Block-
Sans Serif Face
Simplices
Lineari
(Serifenlose) Linear-Antiqua [Antiqua)
Calligraphic Type
Face
Scriptes
Scritti
Schreibschriften (Schreibformen)
Decorated Type Face
-
Ornati
-
Gotic Type Face
Medieves
Mediaevali
Gebrochene Schriften
(Textur)
-
-
(Gotisch)
(Rotunda)
-
-
(Rundgotisch)
(Schwabach)
-
-
(Schwabacher)
(Fraktur)
•
(Fraktur)
(Kurrent)
Nichtlateinische Schriften
(Griechisch)
(Kyrillisch)
(Hebräisch)
(Arabisch)
(Sonstige fremde Schriften)
liehen Ausdruck bei ähnlichen grafischen Merkmalen
können die Caslon und die Times oder die Akzidenz-Gro¬
tesk und die Univers genannt werden. Es wäre jedoch weit
schwieriger, die Schriften lediglich nach der Zeit der Ent¬
stehung zu klassifizieren, denn viele Repliken sind dem
Original so ähnlich, daß selbst dem Fachmann die Unter¬
scheidung schwerfällt.
Die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen sind flie¬
ßend. In England wird z.B. die Caslon-Antiqua zur Old
Face gerechnet, obwohl die grafischen Merkmale der Cas¬
lon, vor allem der Kontrast zwischen fetten und feinen
Strichen und die senkrechte Schattenachse der Rundungen,
ihre Zugehörigkeit zur Übergangsantiqua oder Barock-
Antiqua rechtfertigt. Vor allem die Grenzen der Varia-
Gruppe, der Display Types, sind schwer zu bestimmen. Es
kann deshalb vorkommen, daß der Leser in Zweifelsfällen
die von ihm gesuchte Schrift nicht sofort in der von ihm
vermuteten Gruppe findet.
Renaissance-Antiqua
Die grafischen Merkmale der Renaissance-Antiqua sind:
1. Wechselzug mit schräger Achsstellung der Rundungen
2. geringer Unterschied in der Strichdicke
3. ausgerundete Serifen.
Die Frühform der Renaissance-Antiqua erhielt ihre Prä¬
gung durch Nicolaus Jenson im Jahre 1470. Als Kenn¬
buchstabe dieser frühen Form gilt das e mit einem schrägen
Querstrich. Francesco da Bologna schuf 1495 mit der
Bembo-Туре und 1499 mit der Poliphilus-Type in Venedig für
Aldus Manutius eine neue, lichtere Schrift. Diese letz¬
tere Schrift, erkennbar am e mit waagrechtem Querstrich,
wurde von Garamond um 1530 veredelt und gelangte
über die Schnitte von Jean Jannon in die Gegenwart. Die
Garamond-Antiqua ist in sehr starkem Maße der veneziani¬
schen Antiqua des Aldus verpflichtet, und deshalb scheint
es mir nicht logisch, wenn einige Klassifizierungen die Be¬
zeichnung «Venezianische Antiqua» speziell der Jenson-
Type vorbehalten wollen. Die Jenson- und die Garamond-
Type wurden bis zur Gegenwart je etwa zwei Dutzend
Male unter verschiedenen Bezeichnungen kopiert, und
allein dies beweist das hohe Ansehen, das beide Schriften
ihrer Schönheit und Lesbarkeit wegen bei den Kennern
der Schriftkunst genießen.
Moderne Formen in der Art der Renaissance-Antiqua
können an vielen Beispielen des zwanzigsten Jahrhunderts
demonstriert werden. Zu einem Teil sind sie Repliken ver¬
schiedener älterer Schriften, andere sind durch das Schrei¬
ben mit der Breitfeder entstanden und wurden zeichnerisch
überarbeitet. Die meisten Alphabete der Renaissance-
Antiqua sind als Buchschriften geplant und besitzen eine
kursive und eine halbfette Variante, meistens auch Kapi¬
tälchen.
Barock-Antiqua
Diese Bezeichnung weist auf die Entstehungszeit der
Schriften, die historisch und grafisch zwischen der Renais¬
sance-Antiqua und der klassizistischen Antiqua eingeordnet
werden müssen. Die grafischen Merkmale der Barock-
Antiqua sind :
1. Wechselzug mit fast senkrechter Achsstellung der Run¬
dungen
2. betonter Unterschied der Strichdicke
3. weniger gerundete Serifen.
Während Plantin noch mit den Schriften Garamonds
druckte, entwickelte Christoph van dyck eine hollän¬
dische Form der Antiqua, deren Serifen spitzer auslaufen
und deren Rundungen zuerst eine senkrechte Achse zeigen.
Eine Probe der bei Elzevir verwendeten Schriften van
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