RENAISSANCE DER KALLIGRAFIE
In der gesamten Geschichte der Schrift kann man unter¬
scheiden zwischen Inschriften, Buchschriften und Hand¬
schriften. In der einen Epoche wurde die eine, in einer
anderen Epoche eine andere dieser Erscheinungsformen
der Schrift besonders gepflegt. In Rom dominierten die In¬
schriften an den Triumphbögen, an Denkmalen, Grab¬
malen und Säulen durch ihre künstlerische Qualität, im
Mittelalter wurde die Buchschrift zur wichtigsten Erschei¬
nungsform, nach Gutenbergs Erfindung abgelöst durch
die typografischen Schriften, doch während der Renais¬
sance und im Barock wurde auch die Handschrift gepflegt
und ihre schöne Form hoch geachtet. Eine gepflegte Hand¬
schrift gehörte zur guten Allgemeinbildung.
Die Handschrift ist die Mundart der künstlerischen
Schrift. In fortdauernder Spontaneität entspringen ihr
immer neue Formen. Das Kapitel über die Metamorphose
bewies wiederholt, daß neue Formen zuerst in den Kursi¬
ven, den Handschriften auftauchen und sich dann später in
den Buchschriften stabilisieren. Das handschriftliche Schrei¬
ben ist immer bestrebt, zügige Verbindungen zu finden,
und bewußt oder unbewußt werden neue Formen von an¬
deren Schreibern nachgeahmt, wenn sie einleuchten, les¬
bar und schön sind. Solche in den Handschriften verbreite¬
ten Formen können vom Schriftgestalter abgelauscht und
gelegentlich bei der Neugestaltung einer Druckschrift, vor
allem bei der kursiven Variante, mit verwendet werden.
Umgekehrt wirkte das Vorbild der Buchschrift, auch der
gedruckten Buchschrift, immer schon auf die Handschrif¬
ten zurück. In der Gegenwart kann man beobachten, daß
die Großbuchstaben der Grotesk in unendlich vielen Ab¬
wandlungen in den Handschriften auftauchen, auch bei
Erwachsenen, die in der Schule völlig andere Großbuch¬
staben gelernt hatten. Die Gemeinsamkeit der Buchschrif¬
ten und der Handschriften war in der Renaissance viel stär¬
ker betont. Die Handschriften der italienischen Humanisten
wurden fast ohne Änderungen in den kursiven Druck¬
schriften des Schreibmeisters Arrighi übernommen, und
die Formen der in den Aldinen verwendeten Kursiv wirk¬
ten zurück auf die Handschriften der Leser.
Viele Entwerfer von Druckschriften waren ursprünglich
Kalligrafen oder Schreiblehrer, Peter Schöffer und Jo-
Ebenso wie man wünscht, nicht nur klar, sondern mit einer ge¬
wissen kultivierten und wohlklingenden Anmut zu sprechen, so
sollte man schreiben, und das Schreiben sollte den Namen ¡Calli¬
grafie verdienen - womit gesagt ist, daß Handschrift als eine Art
Kunst angesehen wird. Alfred Fairbank
h ann Neudörffer, Ar righi und Baskerville könn¬
ten hier genannt werden. Schriftkünstler waren immer
schon an der Pflege der Handschrift interessiert, denn Ver¬
ständnis für schöne Druckschriften konnte nur von Lesern
erwartet werden, die ein Auge hatten für die Schrift über¬
haupt, also vornehmlich von Lesern, die Wert legten auf
eine schöne Handschrift.
Etwa seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ver¬
fiel die Kunst der Kalligrafie. Bereits die verschnörkelten
Kupferstichvorlagen des achtzehnten Jahrhunderts hatten
sich immer mehr von der geschriebenen Form entfernt, sie
brillierten mit Haarstrichen und Drehungen der spitzen
Feder, für die nur berufsmäßige Schreiber Zeit hatten.
Monströse Ober- und Unterlängen mit mächtigen Schlei¬
fen führten weg von den Grundformen der Buchstaben,
den Grafemen, damit auch weg von den Formen der Druck¬
buchstaben.
Die Einführung der Stenografie und der Schreibmaschine
tat ein übriges zum Verfall der Handschrift. Es finden sich
sogar ernsthafte Leute, die diesen Zustand für völlig normal
und das schöne Schreiben für antiquiert halten. Sollen wir
auch auf das Klavier- und Geigenspiel verzichten, weil Ra¬
dio und Fernsehen moderner sind? Das Schreibenkönnen
gehört zum Reichtum menschlichen Wesens, und die all¬
gemeine Handschrift verdient eine ebensolche Pflege wie
die Laienmusik. Sollen wir es dabei belassen, daß viele
Kinder in der Schule das von ihnen selbst Geschriebene nur
schwer entziffern können, weil sie den Erwachsenen nach¬
eifern, sogenannten Gebildeten, deren Handschriften auch
unleserlich sind? Wieviele handschriftliche Briefe ent¬
halten eine Entschuldigung wegen der schlechten Schrift,
und wie viele andere Briefe wurden wegen Minderwertig¬
keitskomplexen, die von der Handschrift herrühren, gar
nicht geschrieben? Hier beginnt auch ein psychologisches
Problem, das nicht unterschätzt werden soll. Das Schreiben
ist nach dem Sprechen immer noch die wichtigste Form
menschlicher Kommunikation, und über das Schreiben
führen Wege zur Grafik und zur Poesie, Wege, die auch in
Europa nicht vergessen werden sollten.
Nun führen die neueren Bestrebungen zur Erneuerung
des Schreibens wieder zu jenem William M orris, dessen
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Wollen und Handeln in den Augen vieler Zeitgenossen so
widersprüchlich erscheint, weil er sich nach rückwärts
orientierte und dabei Wege wies, die in die Zukunft führ¬
ten. Wir haben schon in einem früheren Kapitel davon be¬
richtet, wie Morris alte Buchschriften kopierte und dabei
seine Golden Type entwickelte. Von Morris sind viele kalli-
grafische und illuminierte Blätter überliefert. Wesentlich
wichtiger war jedoch, daß sein Beispiel Schule machte und
sich einige seiner Freunde auch in der persönlichen Kor¬
respondenz der alten humanistischen Minuskel bedienten.
Dies mag sich heute etwas kurios anhören, doch was wurde
weiter?
Bereits 1898 erschien von Robert und Mon ic aBridge
«A new handwriting for teachers», ein kleines Buch, in dem
auf die schöne Handschrift von Michelangelo verwie¬
sen wurde und das ein Bemühen um eine allgemeine Ver¬
besserung der Handschrift einleitete.
Der ehemalige Arzt Edward Johnston, von Mor¬
ris' Sekretär Sir Sydney Cockerell angeleitet, dann
selbständig in den reichen Archiven vom Victoria and
Albert Museum und Britischen Museum weitersuchend,
lernte das kalligrafische Schreiben vornehmlich von Hand¬
schriften der späten karolingischen Minuskel. Noch heute
ist sein Buch «Writing and illuminating and lettering», das
bereits vor fünfundsechzig Jahren erschien, das klassische
Werk des Schriftschreibens. Auch sein pädagogisches Wir¬
ken trug reiche Früchte. Über einen seiner ersten Schüler,
Eric G ill, wurde bereits vorn berichtet. Ein anderer Stu¬
dent von Johnston, William Graily Hewitt, führte
Jt is indeed a much more tndif various duty
to acquire a habit of deliberate, legible, and
lovdy penmanship in die daily use ofdxe
pen, d\an to illuminate any quantity of texts.
Abbildung 438 Handschrift von Graily Hewitt
Gmnw n^scMWpjhîltof(miîty
JvtYJfaffof'fîuéï io мак Uten-,
№yjvrip of JOY, nrpmortal
IV Гу fivwoftfary, mvúttutamt}
Áítd éuíVltbikitny ѵНагипшгг'
Abbildung 439 Handschrift von Edward Johnston
seine Lehrtätigkeit an der Central School of Arts and Crafts
weiter und wurde zu einem der Pioniere der gegenwärti¬
gen Kalligrafie.
Von England ausgehend drang die Bewegung der mo¬
dernen Kalligrafie nach den USA, Deutschland und Skandi¬
navien. Doch wird es übersichtlicher sein, wenn wir erst die
weitere Entwicklung auf den Britischen Inseln beobachten.
Alfred Fairbank, geboren 1895, hatte zwischen 1920
und 1922 in der Central School of Arts and Crafts Vorlesun¬
gen und Übungen bei Graily Hewitt und Lawrence
Christie besucht und bereits damals eine Vorliebe für
die humanistische Kursiv entwickelt. Er hatte die italienische
Renaissance-Kursiv studiert, insbesondere die Werke der
Schreibmeister Tagliente, Arrighi und Cresci, aber
er war in der Lage, seinen Schriften - mehr als Morris
und Johnston - den Ausdruck unserer Zeit zu geben.
1921 gründeten Christie, Fairbank und einige Absol¬
venten der Central School die «Society of Scribes and Illu¬
minating». Später fanden sich in dieser Gesellschaft immer
mehr Interessenten an einer Verbesserung der Hand¬
schriften zusammen. Als Sekretär der Gesellschaft brachte
Fairbank Vorlageblätter für den Schulunterricht heraus.
1936 führte er einen ersten Kurs für Lehrer durch, um eine
gut lesbare und schnell schreibbare Schrift an den Schulen
zu propagieren. Die 1952 gegründete Untergruppe der
obengenannten Gesellschaft «Society for Italic Handwrit¬
ing» stellte sich zwei Hauptziele: die eigenen Handschriften
der Mitglieder zu verbessern und die Schulschriften zu re¬
formieren. Fairbanks Wirksamkeit in dieser Richtung
kann kaum überschätzt werden. Er bildete nicht nur Hun¬
derte Grafiker und Kalligrafen in England aus, er hielt dar¬
über hinaus Kurse in vielen Städten der Welt. Nach seiner
Meinung war die humanistische Kursiv nicht nur die
schönste Schreibschrift überhaupt, sondern die für den mo¬
dernen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts am besten
geeignete Ausgangsform, und in diesem Sinne hat er sie
einem großen Publikum nahegebracht, i960 brachte er ge¬
meinsam mit seinem Freund Berthold Wolpe das
Werk «Renaissance Handwriting» heraus, die wahrschein¬
lich beste Sammlung von Kursivschriften überhaupt.
Als hervorragende Kalligrafen und Persönlichkeiten,
die sich um die Verbreitung der Schreibkultur Verdien¬
ste erwarben, müssen für England noch genannt wer¬
den Stanley Moris on, James Wardrop, Reynolds
Stone und Heather Child, der Autor des 1963 erschie¬
nenen Buches «Calligraphy Today». Ohne Zweifel kann
man heute sagen, daß sich die Kalligrafie in England zu
einer behebten Kunstform entwickelt hat und, was viel¬
leicht wesentlicher ist, daß die meisten schönen Hand¬
schriften heute aus England kommen. Von Schottland aus
wirkt der Schrifterzieher Том Gourdie im Geiste von
Fairbank, und seine kleinen Schreibvorlagen haben wahr¬
scheinlich Zehntausenden von Kindern den Weg zu einer
guten Handschrift gewiesen.
In den USA waren es die drei großen Schöpfer vieler
Druckschriften, Frederic Goudy, Bruce Rogers und
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