herausgebildet, die in der karolingischen Minuskel und den
gebrochenen Schriften durch Jahrhunderte Bestand hatte.
Die gebrochenen Schriften verwendeten das lange s am
Wortanfang und ein rundes s am Wortschluß. In der späten
Renaissance wurde das lange s aus den Antiquaschriften
eliminiert.
Das Grafem Ss ist eine von rechts oben nach links unten
laufende schlangenförmige Linie und steht für den Laut s.
T. Aus dem phönikischen Taw wurde das griechische
Tau. Die Römer übernahmen die fertige Form des Versals.
In der späten karolingischen Minuskel wurde der Quer¬
strich schmaler und die Senkrechte nach oben über die
Waagrechte hinausgezogen, doch entstand keine echte
Oberlänge.
Das Grafem Tt ist eine Senkrechte mit einem waagrech¬
ten oberen Querstrich und steht für den Laut t.
U. In der römischen Periode gab es kein Grafem für das
U. Für das Phonem u wurde die Form V eingesetzt. Bereits
in der älteren römischen Kursiv wurde die untere Spitze
des V abgeschliffen, und in der jüngeren römischen Kursiv
konnte man in Handschriften des sechsten Jahrhunderts
bereits zwischen einem unten runden und einem unten
spitzen V differenzieren. In der Gotik und in der Renais¬
sance wird manchmal die runde, manchmal die spitze
Form für beide Laute verwendet. Erst im siebzehnten
Jahrhundert wird die runde Form für u und die spitze für v
eingesetzt. Vorübergehend versuchten einige Gelehrte so¬
gar noch im achtzehnten Jahrhundert die spitze Form für
den Laut u beizubehalten. In der gotischen Bastarda und
der deutschen Kurren t wurde teilweise ein kleiner U-Bogen
zur Kennzeichnung über die v-Form oder die Auf-ab-auf-
ab-Form gesetzt.
Das Grafem Uu besteht aus zwei Senkrechten, die unten
durch eine Rundung verbunden sind, und gilt für den
Laut u.
V. Die Herkunft des griechischen Ypsilon vom phöniki¬
schen Waw ist nicht völlig gesichert. Aus der Ypsilon-Form
des Griechischen soll sich das lateinische V differenziert
haben, doch eine etruskische Vermittlung ist nicht aus¬
geschlossen. Die V-Form war bereits im archaischen Latein
gefestigt, und als Minuskel wurde ein verkleinertes Versal
eingeführt.
Das Grafem Vv ist ein oben offener Winkel. Lange Zeit
galt es für die Laute u, f und w, heute nur noch für fund w.
W. Das W entwickelte sich erst im Mittelalter aus einem
gedoppelten v. Noch in der Renaissance wurde der Laut w
häufig durch uu oder w dargestellt. Umgekehrt galt in der
gotischen Bastarda das Grafem w lange Zeit für den Laut u.
Das Grafem Ww besteht aus zwei nebeneinander stehen¬
den und oben verbundenen V. Sein Lautwert ist heute w.
X. Etwas unverständlich ist es, daß das griechische Chi mit
dem Lautwert ch in das archaische Latein mit dem Laut¬
wert ks übernommen wurde, denn schließlich waren mit
С, К und Q schon drei Grafeme für den Lautwert к vor¬
handen. Die ursprüngliche Form wurde für Versal und
Minuskel durch die Jahrtausende beibehalten.
Das Grafem Xx besteht aus zwei gekreuzten Diagonalen
und bezeichnet im Lateinischen den Doppellaut ks.
Y. Der Buchstabe Ypsilon, dessen Grafem bereits Jahr¬
hunderte vorher vom V umgeformt worden war, wurde
um die Wende des zweiten zum ersten Jahrhundert v. u. Z.
in der griechischen Originalform und mit dem griechischen
Lautwert dem lateinischen Alphabet zugefügt. Diese Er¬
gänzung war notwendig, um die Transskription der vielen
griechischen Wörter, die damals ins Lateinische über¬
nommen wurden, zu erleichtern.
Das Grafem Yy ist ein oben offener Winkel mit einer
Unterlänge, die von der unteren Spitze senkrecht läuft
oder den rechten Schenkel fortsetzt. Es steht für den
Laut ü.
Z. Auch das Zet wurde um dieselbe Zeit wie das Y in
derselben Form und mit dem gleichen Lautwert wie der
griechische Buchstabe Zeta dem Lateinalphabet als letzter
Buchstabe angehängt. Es wurde für die im Lateinischen
vorkommenden Wörter mit dem weichen, stimmhaften
s-Laut eingesetzt. Die Versalform blieb unverändert, die
Minuskelform hatte für viele Jahrhunderte eine gekrümm¬
te Unterlänge, die später wieder entfiel.
Das Grafem des Z besteht aus zwei übereinander an¬
geordneten Waagrechten, die durch eine von oben rechts
nach unten links führende Diagonale verbunden sind. Es
entspricht dem Laut ts.
Zum Schluß dieses Kapitels verdienen auch die Inter¬
punktionszeichen eine Erwähnung. Ihr ursprünglicher
Zweck bei den Griechen und Römern war auf den Vortrag,
das Deklamieren desTextes ausgerichtet. Bereits im alexan-
drinischen Schrifttum gab es ein festes Interpunktions¬
system. Ein einfacher Punkt in der Mitte der I-Höhe be¬
deutete eine bloße Ruhepause beim Lesen (distinetio me¬
dia), der Punkt unten in der Zeile einen kleinen Einschnitt
im Sinne (subdistinetio), und der Punkt oben auf der Zeile
den Abschluß eines Gedankens (distinetio finalis).
Bei den Römern bildeten sich andere Bezeichnungen.
Die distinetio media wurde nach oben gesetzt (colon), und
die subdistinetio wurde zum comma in der Mitte. Aber
in vielen Majuskelhandschriften wurde die Interpunktion
in den ersten Jahrhunderten u.Z. nicht mehr beachtet.
Alkuin von York bemühte sich bei seiner Schriftreform
um eine Wiedereinführung der Satzzeichen. Der Punkt (di¬
stinetio constans) stand am Ende des Satzes, der Strichpunkt
(finitiva) und das Ausrufezeichen (suspensiva) wurden
häufig eingesetzt. Auch das Fragezeichen ist alt, es wurde
aber oft an den Anfang des Satzes gestellt. Doch viele Zei¬
chen verschwanden häufig wieder oder wurden nur un¬
regelmäßig angewendet. Hin und wieder traten auch
Trennungsstriche und Parenthesen auf. Viel häufiger je¬
doch kommen gedoppelte Punkte oder drei in Dreiecks¬
form gesetzte Punkte in verschiedenen Varianten vor.
Erst die Bemühungen der Humanisten befestigten die
Interpunktionsregeln. Ein besonderes Verdienst um ihre
Verbreitung und die grammatisch richtige Anwendung
der Zeichen hatte Aldus Manutius.
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VON DER ANATOMIE DER LATEINISCHEN BUCHSTABEN
.Das letzte Kapitel beschäftigte sich mit der Herausbil¬
dung der bestimmten Grundformen unserer Buchstaben,
den Grafemen, deren meiste in den letzten tausend Jahren
konstant blieben. Ihre schnelle Identifizierung ist für das
Lesen unerläßlich. Unter Beibehaltung der Grafeme er¬
fuhren die Buchstaben jedoch viele äußere Umwandlungen.
Wer heute eine typografische Schrift benützen will, dem
stehen in den Angeboten der etwa fünfundzwanzig Schrift¬
gießereien aus aller Welt Tausende von Schriftschnitten
zur Verfügung. Wenn wir als älteste Form die Repliken
der Antiqua von Nicolaus Jenson annehmen, deren
Urform 1470 in Venedig entstand, dann sind die heute von
uns verwendeten Buchstabenformen in einem Zeitraum
von fünf Jahrhunderten entstanden. Wer sich nun mit
Schriften beschäftigt, nicht nur der Entwerfer, auch jener,
der die Schrift anwendet, und möglichst auch der Leser,
sollte etwas über die grafische Qualität der Buchstaben
wissen.
Die Schreibmeister der Renaissance versuchten, die Fi¬
guren der lateinischen Großbuchstaben durch Konstruk¬
tionen zu erfassen. Beispiele vonLucAPACciOLi, Verini,
Damiano da Moile und Amphiareo sind im Kapitel
über die Renaissance abgebildet. Noch weiter in der Be¬
stimmung von Details der Buchstabenform durch die
Konstruktion ging die 1692 unter Vorsitz des Abbé Nico¬
las Jaugeon tagende Kommission für die Festlegung
der Proportionen der Romain du Roi. Alle diese Versuche
dürfen nicht überbewertet werden. Künstlerische Lei¬
stungen werden kaum durch Konstruktionen zustande
kommen, und wenn die Romain du Roi doch eine gute
Schrift wurde, dann wohl deshalb, weil sich der Schrift¬
schneider Grandjean über viele Festlegungen der Kon¬
struktion hinwegsetzte. Aber die eingehende Beschäfti¬
gung mit der Konstruktion vertiefte die Kenntnisse über
die Anatomie und den Aufbau der Buchstaben, wie sie im
Laufe ihrer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte ge¬
wachsen sind. Statt einer Konstruktion bringen wir einen
Vergleich der schönsten Buchstaben der Schriftgeschichte,
vor allem der Geschichte der Typen und Hinweise auf die
Besonderheiten der einzelnen Buchstaben.
Entsprechend den verschiedenen historischen Bedingun-
Ein rechtes Maßvcrhällnis gibl cinc guie Gestalt,
und nicht allein im Gemälde, sondern auch in allen Dingen,
wie sie sonst hervorgebracht mögen werden.
Albrecht Dürer
gen ihres Entstehens und ihrergrundsätzlich andcrcnForm-
gesetze unterscheiden wir und trennen wir die lateinischen
Großbuchstaben von den Kleinbuchstaben. Wir beginnen
mit den Versalien.
Die lateinischen Großbuchstaben bestehen aus den geo¬
metrischen Grundformen und ihren Abwandlungen. Sie
können demnach in drei Gruppen eingeteilt werden:
die Gruppe der Buchstaben mit waagrechten und senk¬
rechten Strichen I, H, L, E, F, T, J,
die Gruppe der runden O, Q, C, G, D, U, B, P, R, S
die Gruppe der Buchstaben mit schrägen Strichen A, V,
W, X, Y, М, N, K, Z.
Ein Nebeneinanderstellen von Kreis, Dreieck und Qua¬
drat macht uns auf eine einfache optische Besonderheit auf¬
merksam, eine optische Täuschung, die für alle Schriften
gilt. Wenn Kreis und Dreieck zeichnerisch auf die Höhe des
Quadrats gebracht werden, dann wirken sie zu klein. Der
Kreis muß oben und unten, das Dreieck mit seiner Spitze
über die waagrechten Begrenzungslinien hinausführen,
beim Kreis muß man etwa 2% der H-Höhe oben und 2%
unten zugeben, beim gleichseitigen Dreieck sollte die
Spitze sogar um fast 3% über die Hilfslinie hinausragen. Da
die Rundungen natürlich vom Kreis abweichen und auch
die Spitzen unterschiedliche Formen haben und häufig
etwas abgestumpft sind, müssen diese Richtwerte in jedem
Fall überprüft werden, entscheidend ist immer der optisch
richtige Eindruck.
I und J. Was bietet ein einfacher senkrechter Strich für
Probleme? Für den Schriftentwerfer ist das Versal I ein
Schlüsselbuchstabe. Seine Zeichnungen entscheiden über
die Strichfette, über die Dicke der Grundstriche der gesam¬
ten Schrift. Die Schriftfette ergibt sich aus dem Verhältnis
der Grundstrichfette zur H-Höhe. Die Schreibmeister der
Renaissance versuchten dieses Verhältnis in eine Beziehung
zur Anatomie des Menschen zu bringen, dessen ideale
Proportion der Kopfhöhe zur Gesamthöhe etwa 1: 8 be¬
trägt. Felice Feliciano allerdings, der 1460 als erster in
der Renaissance den Proportionen alter Inschriften nach¬
spürte, gab eine Strichstärke von 1:10 der Höhe an. Zu
zarte Schriften wirken spinnig und lassen sich auf holz¬
haltigem Papier schlecht drucken, für eine Wiedergabe im
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