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Abbildung 29 Pompejanische Inschrift
Zwei völlig verschiedene Werkzeuge beeinflußten die
epigrafische Schrift. Locker und frei aus dem Schulterge¬
lenk wurden die Figuren mit einem breitpinselähnlichen
Spatel von dem Grafiker, dem Ordinator, vorgeschrieben.
Die Schreibhaltung des Spatels von etwa 30 Grad ergab
ungefähr doppelt so breite Schatten- wie Haarstriche. Sol¬
che Pinselschriften waren allgemein in Plakaten und An¬
kündigungen verbreitet, aber nur wenige sind durch die
Ausgrabungen in Pompeji bekannt geworden. Die vorge¬
schriebenen Formen wurden nun an den Denkmalen vom
Steinmetz, dem Lapidarius oder Quadratarius, durch den
Meißel veredelt und diszipliniert. Aus der Meißeltechnik
wurden die Serifen geboren,8 die der klassischen Kapitale
ihre Vollendung und Würde verleihen.
Neben der römischen Kapitale, der epigrafischen Schrift
für Denkmale und Monumente, schrieb man im Römi¬
schen Reich als Handschrift für den täglichen Gebrauch die
römische Kursiv oder Kurrent. Hier kam es dem Schreiber
in erster Linie darauf an, schnell und lesbar seine Gedanken
festzuhalten oder an andere zu vermitteln; der Wunsch
nach schöner Gestaltung mag dabei teilweise zurückgetre¬
ten sein. Über die Zeit der Entstehung der römischen Kur¬
siv sind keine genauen Angaben möglich. Die ältesten
Schriften find man in Pompeji, doch kann man annehmen,
daß diese geläufige Schrift bereits lange vordem geschrieben
wurde. Sie bestand weiter bis in die späte Karolingerzeit
und machte dabei viele Veränderungen durch. Die Paläo-
grafie unterscheidet eine jüngere und ältere Kursiv und
setzt die Grenze zwischen beiden ans Ende des vierten Jahr¬
hunderts. Das Kennzeichen der älteren römischen Kursiv oder
Kapitalkursiv sind die im allgemeinen noch gleichhohen
Buchstaben. Die Entwicklung der Kurrent zeigt eine Viel¬
zahl persönlicher Schriftformen. Teilweise sind die Figuren
der Buchstaben dabei eng an die römische Kapitalschrift an¬
gelehnt, teilweise sind sie bewußt kursiv gestellt und durch
Flüchtigkeit und andersartige Schreibmittel verändert.
Durch das Schnellschreiben ergab sich bei einzelnen
Buchstaben eine immer stärkere Umbildung der Formen,
Einzelstriche wurden zusammengezogen, die Geraden
leicht durchgewölbt; manche Ecken, die nur mit Zeitauf¬
wand und neuem Federansatz zu schreiben waren, wurden
abgerundet. Die Endstriche zeigen eine deutliche Rich¬
tungstendenz zum nachfolgenden Buchstaben. Im Ver¬
gleich zur römischen Kapitale erscheint die Kursiv abge¬
schliffen und flüchtig. Nicht allein als Ausdruck des persön¬
lichen Temperaments, sondern praktisch begründet durch
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eine verbesserte Unterscheidbarkeit der Einzelbuchstaben
erwachsen bei den weniger exakten Figuren die ersten Ober-
und Unterlängen. Im Keime ensteht, was für die Schriftent¬
wicklung der nächsten Jahrhunderte bezeichnend ist: Aus
der schnell geschriebenen Handschrift beginnen sich die
einzelnen Figuren der Kleinbuchstaben herauszuschälen.
Die römische Kursiv wurde mit zwei verschiedenen
Schreibgeräten, dem Stilus und dem Calamus, geschrieben.
Mit einem Stilus aus Holz, Bein oder Metall ritzte man die
Zeichen in kleine Schreib tafeln; verschiedene dieser auf bei¬
den Seiten flach ausgehöhlten Holztafeln, die mit einer
Schicht gefärbten Wachses bestrichen waren, konnten zu¬
sammengebunden werden und ergaben je nach Zahl der
Tafeln Diptycha, Triptycha oder Polyptycha, die Ausgangs¬
form unserer heutigen Bücher. Das hintere Ende des Stilus
war abgeplattet, damit die Schreibfläche wieder geglättet
werden konnte. Das andere Schreibgerät war der Calamus.
So bezeichnete man einen Rohrgriffel, mit dem man mit
Tusche auf Papyrus, Pergament, Leinwand oder Tonscher¬
ben schreiben konnte. In Pompeji fand man auch in den
Putz der Hauswände gekratzte Inschriften. Alle diese
Schreibmittel beeinflußten die Form der Schrift. Das Schrei¬
ben mit dem Stilus in die weiche Wachsschicht erforderte
beim schnellen Schreiben ein mehrfaches Absetzen bei
Rundungen. Das О erhielt dadurch Spitzen oben und unten,
das S wurde fast zur Senkrechten gestreckt und das M durch
das ungenaue viermalige Ansetzen zu einem Gebilde aus
vier senkrechten Strichen deformiert. Der Calamus wurde
zwischen Zeige- und Mittelfinger gehalten. Die Schreib¬
bewegung ergab sich bei dieser Haltung nicht nur aus
Hand- und Fingergelenk, sondern auch aus dem Schulter¬
gelenk. Dadurch entstanden die großzügigen breiten, nach
rechts drängenden Formen, die sich besonders bei den Dia¬
gonalen von A, N, M und V zeigen.
S Vergleiche hierzu: Caticii: The Origin of the Serife. Davenport
1968. Auch: G.K.Schauer im Druckspiegel, Stuttgart 1970, Nr.2,
Seite 78fr. Leider konnte ich Catichs Werk noch nicht erhalten,
aber wenn dort nach Schauers Angaben festgestellt wird, daß die
Form der Serifen ausschließlich auf die Pinseltechnik zurückzu¬
führen wäre, dann scheint mir dies eine sehr gewagte Behauptung
zu sein. Natürlich kann man bei einiger Geschicklichkeit die Seri¬
fen auch mit dem Breitpinsel schreiben, aber mit demselben
Breitpinsel können ebenso die Querstriche der Rustika, die Bal¬
kenfüße der Egyptienne, die Füßchen der Textur und der Fraktur,
die Schraffen der klassizistischen Antiqua und die Endungen der
Grotesk geschrieben werden. Nach meinen Beobachtungen in
Pompeji wurden die dortigen Aufschriften in einer freien Ab¬
wandlung der Rustika derart geschrieben, daß der Spatel aus dem
senkrechten Abstrich heraus mit einer leichten Drehung erst
nach links bis zur Grundlinie und dann waagrecht nach rechts ge¬
führt wurde. In einigen Fällen wurde zwar im senkrechten Ab¬
strich noch einmal angesetzt, um mit der rechten Spatelkante
eine rechte Rundung zu erreichen. Aber bei keiner dieser Inschrif¬
ten sah ich eine richtig ausgebildete Serife. Diese finden sich erst¬
mals bei den gemeißelten Inschriften. Es kann deshalb angenom¬
men werden, daß sich der vorschreibende Ordinator Mühe ge¬
geben hat, sich der Form der idealen Serifen zu nähern, aber das
formbestimmende Werkzeug für die Entstehung der Serifen war
der Meißel.
Vergleiche die Abbildungen auf den Seiten 26 bis 33
Die Einführung des Pergaments ermöglichte ein größeres
Gleichmaß des Schreibens. Häute und Felle hatte man be¬
reits früher als Beschreibstoffe benutzt, doch in der klein-
asiatischen Stadt Pergamon, nach der das Pergament seinen
Namen erhielt, erfand man ein verbessertes Verfahren zum
Zubereiten der Häute. Zur Herstellung des neuen Be¬
schreibstoffes eigneten sich vor allem die Felle von Schafen
und Ziegen. Das Haar der aufgeweichten Felle wurde sorg¬
fältig abgeschabt, die Haut mehrere Tage in einem nach
besonderen Rezepten angesetzten Bad belassen und dann
in gespanntem Zustand getrocknet. Pergament war auf
beiden Seiten, der Fleisch- und der Haarseite, beschreibbar
und vorteilhafter als der meist nur einseitig beschreib¬
bare Papyrus. Sicher haben auch Kriege und Handelsein-
schränkungen den Import des Papyrus aus Ägypten behin¬
dert und zur Pergamentherstellung an verschiedenen Or¬
ten des Römischen Reiches angeregt. Mehrere Jahrhun¬
derte bestanden beide Beschreibstoffe nebeneinander, aber
seit dem vier ten Jahrhundert begann der Gebrauch des Per¬
gaments für Buchschriften zu überwiegen.
Als Buchschrift verwendete man in der römischen Kaiser¬
zeit die Quadrata und Rustika. Beide Schriften sind eine Ab¬
wandlung der römischen Kapitale. Die Quadrata versucht,
die Kapitalschrift und ihre meißelbedingten Formen durch
ständige Federdrehung nachzuahmen. Sie erhält dabei
durch den übertriebenen Kontrast von feinen und fetten
Strichen ein erkünsteltes und unnatürliches Aussehen. Die¬
ser Eindruck entsteht besonders dann, wenn Haar- und
Schattenstriche vertauscht werden, wie z.B. bei R und N.
Die Bezeichnung Scriptura quadrata wirdinderPaläografie
komplex für alle römischen Majuskelschriften, auch die in
Stein gehauenen, verwendet. Der Name könnte davon
kommen, daß in Rom die Steinmetzen als Quadratures be¬
zeichnet wurden. Für den Schriftpraktiker sollte man
die in Deutschland eingeführten Namen beibehalten.
In der schmallaufenden Form wird die Bindung an die
klassische Kapitale noch mehr gelockert. Ob das schmale
Schreiben und die steilere Haltung des Calamus durch die
senkrechte Faserbildimg des Papyrus entstand oder ob le¬
diglich die jeweils zur Verfügung stehende Schreibfläche
besser ausgenützt werden sollte, ist heute nicht mehr fest¬
zustellen. Schon vorn wurde erwähnt, daß Formen der
Rustika und der Quadrata in vielen Abwandlungen auch
auf Denkmalen und Grabsteinen, auch in den mit roter
Farbe gemalten Reklameschriften in Pompeji zu finden
sind, aber die Herkunft der Rustika als Sonderform muß
am Buch oder der Schriftrolle entstanden sein. Hatte man
die Kapitale frei aus dem Schultergclenk geschrieben, so
lag bei der Rustika der Unterarm auf, und die Bewegung
kam vor allem durch das Beugen und Strecken der Finger.
Durch die steile Haltung im Winkel von über 45 Grad, die
der Calamus beim Schreiben der Rustika einnahm, braucht
dieser nicht mehr gedreht zu werden. Durch die Verdik-
kung der Nebenstrichc und das Brüchigwerden der tra¬
genden Balken war die Beziehung zum klassischen und
mit der Architektur eng verbundenen Prinzip der römi¬
schen Monumenlalschriften weitgehend aufgehoben wor¬
den. Wenn man auch der Rustika einen gewissen dekorati¬
ven Reiz nicht absprechen kann - immerhin wurde sie als
Auszeichnungsschrift noch fas t einJahrtausend verwendet-,
so mußte die weitere Entwicklung doch aus einer anderen
Wurzel kommen.
Der Niedergang der alten Gesellschaftsordnung brachte
das Ende dieser hohen Kultur. Die früher in Horden leben¬
den Barbaren hatten sich zu großen militärischen Verbän¬
den zusammengeschlossen, die gemeinsam mit den Sklaven
den Bestand des Reiches selbst bedrohten. Die große Ba¬
stion der Sklavenhalterordnung auf europäischem Boden,
das römische Staatswesen, zerfiel. Auch die Geldwirtschaft
wurde wieder zugunsten der Naturalwirtschaft einge¬
schränkt. Die Geldmittel flössen in die Handelszentren des
Ostens, nach Byzanz und Alexandrien. Das Christe'ntum
wurde unter Konstantin Staatsreligion, die Kirche erhielt
einen beträchtlichen gesellschaftlichen Einfluß im Staate.
Der Zweck des Schreibens hatte sich gewandelt. Mit dem
Zerfall des Römischen Reiches wurden Inschriften in der
Architektur und an Denkmalen kaum noch gebraucht. Die
Schreib- und Lesekunde verkümmerte. War in der Blüte¬
zeit des Römischen Reiches ein großer Kreis der Bürger
und Soldaten schreibkundig, so konnten in den späteren
Jahrhunderten nur noch Gelehrte und amtliche Schreiber
lesen und schreiben. Der Zerfall der Kultur zeigt sich auch
im Zerfall der epigrafischen Schrift. Die neue Schriftkunst
der christlichen Kirche und des Feudalismus entstand am
Buch.
■ Zwei andere Zweigschriften des griechischen Alphabets
verdienen hier eine wenigstens kurze Erwähnung, die Ru¬
nen und die westgotische Schrift. Entgegen früheren Be¬
hauptungen, die teilweise die Runen als eigene germanische
Erfindung bezeichneten, wurde von den schwedischen
Forschern Marstrander und Hammarström überzeu¬
gend nachgewiesen, daß diese Schrift von alpinen Alpha¬
beten abgeleitet wurde. Sic fußt damit auf einem Zweig
des griechisch-lateinischen Alphabets, demNordetruskischen.
Die Runen gehören heute zu den toten Schriften und haben
für den Schriftkünstler kein direktes Interesse.
Die zweite von germanischen Stämmen geschriebene
Schrift war die westgotische Schrift, die der westgotischc Bi¬
schof Uleilas (318 bis 383) vervollkommnete. Die Formen
des damaligen griechischen Alphabets des Oströmischen
Reiches, dem einige Runenzeichen beigefügt wurden, bil¬
den die Grundlage dieser Schrift. Als schönstes Beispiel
ihrer feierlichen Unzialformcn kann man den Codex argen-
teus bezeichnen, der auf purpurfarbenem Pergament mit
Silber- und Goldbuchstaben geschrieben wurde. Die aria-
nischen Goten entwickelten bereits ein beachtliches Schrift¬
tum. Neben der westgotischen Buchschrift entstand eine
Kursiv für geschäftliche Zwecke, die schneller geschrieben
werden konnte. Auch die westgotischen Schriften fanden
keine Fortsetzung. Sie wurden nach dem Zerfall des West¬
gotenreiches abgelöst von den Formen der lateinischen
Schrift.
Vergleiche die Abbildungen auf den Seilen 34 bis 39
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