die Kleinbuchstaben n und u sind kaum mehr zu unter¬
scheiden. Die Punzen waren zu kompliziert; klare Punzen
sind aber eine immer wichtiger werdende Forderung an
moderne Satzschriften. Das gute Erkennen der Grafeme in
Grundschrift, Kursiv und Handschrift, also eine weit¬
gehende Annäherung dieser Formen und eine leichte
Schreibbarkeit der Handschrift sind das entscheidende
Qualitätsmerkmal einer Schrift.
Die lateinischen Buchstaben besitzen diese Qualitäts¬
merkmale in hohem Maße, und wenn es gelingt, die für die
Nationalsprachen notwendigen Phoneme und die über¬
lieferten Grafeme in Übereinstimmung zu bringen, kön¬
nen relativ günstige Lösungen entstehen. In diesem Jahr¬
hundert erfolgten solche Versuche zuerst in der Türkei
durch die Schriftreform von Кем al Atatürk und zuletzt
in der Volksrepublik China sowie bei einigen National¬
staaten Afrikas.
Je mehr wir uns von der Geburtsstunde unserer Grafeme
entfernen, desto häufiger taucht die Frage auf, ob es nicht
besser wäre, die überlieferten Schriftformen samt und son¬
ders über Bord zu werfen und eine neue Schrift zu erfinden,
die wissenschaftlich vorbereitet und begründet, einfacher
zu schreiben, besser zu lesen und den technischen Be¬
dingungen der Computer angepaßt sein müßte. Außer
Stenografie, Morsezeichen, dem binären System und der
ßlindenschrift gibt es noch eine Reihe von Zeichenkombi¬
nationen, unsere Laute grafisch darzustellen. Dem Hin¬
weis auf die schlechtere Lesbarkeit der bisher bekannten
Vorschläge wurde kürzlich auf einer Tagung mit der Be¬
merkung entgegengetreten, daß solche Urteile durch die
Konvention voreingenommen wären. Um objektive Ver¬
suchsergebnisse zu erhalten, müßte man eine Gruppe Kin¬
der überhaupt nicht mit der Lateinschrift in Berührung
bringen und ihr nur Fibeln, Kinderbücher und Schulbücher
in jener neuen Schrift zum Lesen und Arbeiten geben. Ein
Eingehen auf diesen skurrilen Vorschlag muß sich er¬
übrigen. Auch jene Gedanken, die neue Grafeme als Aus¬
druck der Phoneme empfehlen, führen auf einen Holzweg,
denn die grafische Darstellung von Lauten etwa nach der
Mund- oder Zungcnstelltmg oder als Sinnform ist zu sehr
von einer individuellen Betrachtung abhängig, als daß sie
von einer großen Mehrheit der Menschen gutgeheißen
werden könnte. Für uns ergibt sich nach dieser Betrachtung
um so mehr die Gültigkeit der lateinischen Schrift und die
Notwendigkeit, unsere sechsundzwanzig Grafeme im ein¬
zelnen zu betrachten und mit Aufmerksamkeit ihre For¬
men zu ergründen.
In den beigefügten Tafeln möchte ich die Metamorphose
unserer Grafeme darstellen. Die einzelnen Zeichen sind
keine exakten Kopien, ich wollte vor allem durch das
Schreiben mit einer Feder die Veränderung der Formen
einleuchtend darstellen. Es war nicht der Platz für alle
interessanten Formen, viele der nicht weiterführenden Ent¬
wicklungslinien habe ich weggelassen. Allerdings war der
Entwicklungsgang mancher Grafeme einfacher, wie etwa
beim i oder f, bei anderen komplizierter, z.B. bei g oder r,
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und es war mir nur gelegentlich möglich, Beispiele der
Nationalschriften oder der gebrochenen Schriften zu
zeigen. Auf jeder Seite sind einige der wichtigen Formen
vergrößert herausgehoben.
Die meisten Seiten beginnen mit westgriechischen, etrus-
kischen und frühen römischen Versalien. Zur Zeit Ciceros
waren alle dreiundzwanzig römischen Versalbuchstaben
fixiert, drei andere kamen erst sehr viel später dazu. Aber
dazwischen lag die Zeit der Genesis der Kleinbuchstaben,
die im allgemeinen mit dem neunten Jahrhundert abge¬
schlossen war. Dazwischen lagen die ältere römische Kur¬
siv und die Halbunziale, welche die Formen veränderten
und die Buchstaben zum Vierliniensystem mit Obt r- und
Unterlängen führten. Meistens waren damit die Formen
der Kleinbuchstaben geklärt, und die späteren Schriftarten
der Gotik, der Renaissance und des Barocks wurden nur in
dem Maße ergänzt, wie dies zum Verständnis der teilweise
andersartigen Kurrent- oder Frakturformen notwendig
war. Zweieinhalb Jahrtausende der lateinischen Schrift
bringen noch unter dem Zeitraffer erstaunlich wenig Ver¬
änderungen; trotz sozialer, nationaler und religiöser
Kämpfe haben fünfundsiebzig Generationen an diesen
Grafemen festgehalten und nur den äußeren Habitus im¬
mer wieder ihrem Zeitgeschmack und dem Zeitstil an¬
gepaßt.
Im folgenden werden die sechsundzwanzig Grafeme des
lateinischen Alphabets einzeln in ihrer Entwicklung vor¬
gestellt:
A. Als eines der wenigen direkt aus den ägyptischen
Hieroglyphen ableitbaren Grafeme veränderte das A bei
den Phönikern und Griechen zwar die Schreibrichtung,
aber nie seinen formalen Aufbau. Der ägyptische Stierkopf
wurde über das phönikische Aleph und das griechische
Alpha zum lateinischen A. In der älteren römischen Kursiv
fehlt oft die Mittellinie, und der rechte Schenkel ragt über
den linken hinaus, in der Unziale krümmt sich dann der
linke Schenkel zu einem Bogen. Diese Form wird von der
karolingischen Minuskel beibehalten, im elften und zwölf¬
ten Jahrhundert richtet sich der rechte Schenkel auf und
bildet dafür oben links einen Bogen.
Das Grafem Aa besteht aus zwei Schenkeln, die oben zu¬
sammenlaufen. Ihm ist seit dem Griechischen der Laut wer t
a eigen.
B. Das griechische Beta kann mit Sicherheit auf das
phönikische Beth zurückgeführt werden und war in der
römischen Kapitalschrift ein senkrechter Strich mit zwei
halbkreisförmigen Bogen auf der rechten Seite. Bereits in
der älteren römischen Kursiv wurde der obere Bauch durch
das flüchtige Schreiben abgeschliffen, und es entstand die
Form, die später in der karolingischen Minuskel formali¬
siert, in den gebrochenen Schriften abgewandelt und in der
Renaissance-Antiqua wieder befestigt wurde.
Das Grafem Bb ist ein senkrechter Strich mit zwei Halb¬
kreisen auf der rechten Seite, von denen der obere auch
wegbleiben kann; ihm entspricht im Lateinischen der
Laut b (im Russischen w).
С Auch der dritte griechische Buchstabe, das Gamma,
das auf das phönikische Gimel zurückgeführt werden kann,
wurde in die lateinische Schrift übernommen und verän¬
derte sich schon früh von einem mit der Spitze nach links zei¬
genden Winkel in einenrechtsoffenenHalbkreis. Allespäte¬
ren Abwandlungen sind nur formaler Art, lediglich das
kleine с der späten deutschen Kurrent mit seiner Auf-ab-auf-
Bewegungführt von der Ausgangsform wegund konnte mit
dem i der deutschen Kurrent verwechselt werden.
Das Grafem Cc ist ein rechts offener Halbkreis. Die pho¬
netische Bedeutung ist vieldeutig. In der Römerzeit galt es
für die Laute c, g und k, als к wurde es meist vor den pla-
talen Vokalen e und i eingesetzt. Doch diese Bindungen
wurden später gelockert, und heute hat das Grafem Cc die
Lautbedeutung c, g, dsch, к und zusammen mit dem h
steht es im Deutschen noch für eh.
D. Das phönikische Daleth wurde zum griechischen
Delta ; es war ein mit der Spitze nach oben deutendes Drei¬
eck, das im archaischen Latein seine Lage änderte, erst mit
der Spitze nach links und nach der Änderung der Schreib¬
richtung mit der Spitze nach rechts zeigte. Aus dem schnei-'
len Schreiben bildete sich der Winkel zum Halbkreis. In der
älteren römischen Kursiv wurde der rechte Bogen oben
über den linken Abstrich weggeführt. In der Unziale run¬
dete sich auch die linke Seite, und in der jüngeren römischen
Kursiv und der Halbunziale richtete sich der rechte Strich
auf und wurde zur Oberlänge. Diese Form befestigte sich
in der karolingischen Minuskel und wurde in der Re¬
naissance-Antiqua bestätigt.
Das Grafem Dd tritt in zwei verwandten Erscheinungs¬
formen auf, als Versalgrafem ist es eine Senkrechte mit
einem Halbkreis auf der rechten Seite und als Minuskel-
grafem eine Senkrechte mit einem Bogen an der linken
unteren Seite. Dem Grafem Dd entspricht der Laut d.
E. Ein phönikisches Grafem mit dem Lautwert h wurde
von den Griechen als Epsilon mit dem Lautwert e über¬
nommen. Im archaischen Latein noch eine Senkrechte mit
drei nach links weisenden Zinken, stabilisierte sich der
Buchstabe bald nach dem Richtungswandel der Schrift in
der noch gegenwärtigen gültigen Versalform. In der älte¬
ren römischen Kursiv und der Unziale wurde die Senkrechte
gerundet, und dadurch konnten der obere und der untere
Querstrich eingespart werden. Später, in der jüngeren
römischen Kursiv wurde der obere Bogen häufig geschlos¬
sen, und dadurch entstand das für den Kleinbuchstaben
typische Auge. Schließlich wurde in der karolingischen
Minuskel der mittlere Querstrich weggelassen bzw. durch
die untere Begrenzung des Punzens ersetzt. In der Jenson-
Antiqua hatte das e noch einen schrägen Querstrich, der
waagrechte Querstrich der Garamond-Antiqua nähert sich
wieder dem Versalgrafem.
Das dem Versal und den Kleinbuchstaben gemeinsame
Grafem ist ein senkrechter oder gebogener Strich mit drei
nach rechts führenden Querstrichen, die auch gekrümmt
oder gerundet sein können. Das Grafem Ее steht für den
Vokal e.
F. Das griechische Digamma gelangte über das Etruski-
sche in das archaische Lateinalphabet. Sofort nach dem
Schreibrichtungswechsel erhielt es die noch gegenwärtig
gültige Versalform. Durch das schnelle Schreiben der
Kursiv wurde der obere Querstrich abgerundet, und in der
karolingischen Minuskel bildete sich der über dem mitt¬
leren Querstrich stehende Teil zur Oberlänge.
Das Grafem Ff besteht aus einer Senkrechten und zwei
nach rechts weisenden Querstrichen, von denen einer in
der Mitte und der andere oben angesetzt ist, der obere
kann auch gerundet sein. Es steht für den Laut f.
G. Um den mehrfachen phonetischen Wert des С wenig¬
stens teilweise zu klären, wurde im Jahre 230 v.u.Z. - an¬
geblich auf Vorschlag von Spurius Carvilius Ruga -
dem С mit der Lautbedeutung g das griechische Gamma
angehängt. In der römischen Kapitale entstand ein rechts
offener Halbkreis mit einem unten rechts scharf angesetz¬
ten nach oben führenden kurzen Strich. Beim unformalen
Schreiben wurde der senkrechte Strich immer mehr nach
unten verlängert und erhielt kräftige und eigenwillige
Schwünge, während der obere Halbkreis zu einem kleinen
Kreis geschlossen wurde.
Das Grafem Gg ist ein halbrundes oder rundes Gebilde,
dem unten rechts ein Strich oder Schwung angefügt wurde.
Es steht für den Laut g.
H. Aus dem phönikischen Heth wurde das griechische
Heta oder Eta. Im archaischen Latein wurden die beiden
Senkrechten gelegentlich noch mit drei Strichen verbun¬
den, doch nur der mittlere konnte sich erhalten. Der rechte
Schenkel wird beim flüchtigen Schreiben in der älteren
römischen Kursiv oft nur aus dem Querstrich heraus nach
unten geführt. In der Unziale formalisierte sich diese
Schreibweise, und in der Halbunziale und der karolingi¬
schen Minuskel bildete der linke Schaft eine Oberlänge,
die heute für den Kleinbuchstaben typisch ist.
Das Grafem Hh besitzt zwei Senkrechte, welche durch
eine Waagrechte verbunden sind, die in der Mitte der lin¬
ken Senkrechten angesetzt ist. Es gilt für den Laut h (im
Russischen gilt das Versalgrafem für n).
I. Das griechische Iota, aus dem komplizierten phöniki¬
schen Jodh hervorgegangen, behielt seine Gestalt bis in
unsere Tage und bestätigt, daß sich einfache Formen am
besten bewähren. Etwa im zwölften Jahrhundert wurden
bei gedoppelten ii, die einen längeren i-Ton angaben, über
beide Grundstriche kleine Striche zur Kennzeichnung ge¬
setzt. Das letztere des gedoppelten ij erhielt häufig eine
leichte Unterlänge. In der Mitte des vierzehnten Jahrhun¬
derts wurde aus dem Strich über dem i ein Punkt über dem
i. Schließlich im siebzehnten Jahrhundert differenzierte
man die Phoneme i und j. Und nachdem am Ende des
sechzehnten Jahrhunderts das Grafem J entstanden war,
wurde im siebzehnten Jahrhundert auch bei den Versalien
lautlich zwischen I und J unterschieden.
Die Grafeme Ii und Jj sind senkrechte Striche, die im
letzteren Falle unten leicht verlängert und nach links ein¬
gebogen sind. Sie geben die Laute i und j wieder.
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