ein Teilgebiet der Semiotik, beschäftigt sich unter anderem
auch mit einer Idealsprache mit umkehrbar eindeutiger
Beziehung zwischen dem Bezeichneten und dem Bedeute¬
ten, aber die bisherigen Untersuchungen haben auf dem
Gebiet der Schrift noch zu keinen positiven Ergebnissen
geführt.
Statt den in der Semiotik und in der Informationstheorie
verwendeten Begriffen Signal und Information gebrauch¬
ten die beiden Moskauer Buchkünstler Faik Tagirow
und S.B.Telingater die Bezeichnungen Grafem und
Phonem, die allerdings mit den semiotischen Begriffen
nicht deckungsgleich sind, aber dem Gebiet der Schrift
eher entsprechen. Nicht ohne Grund beschäftigen sich die
sowjetischen Schriftkünstler und Theoretiker eingehend
mit diesen Problemen, denn viele Werkschriften in der
Sowjetunion werden gleichzeitig mit einer lateinischen und
einer russischen Variante gefertigt, und ein großer Teil der
lateinischen und der russischen Buchstaben ist identisch,
ein anderer Teil besitzt dieselben Grafeme, die aber eine
unterschiedliche phonetische Bedeutung haben. Zum an¬
dern ist die Spannung zwischen den Grafemen der Druck¬
schrift und denen der Handschrift im Russischen noch
größer als im Lateinischen, und es ist verständlich, daß sich
die sowjetischen Experten um die Zukunft der russischen
Schrift Gedanken machen.
Ich halte es für notwendig, daß sich ein Fachbuch über
die lateinische Schrift auch mit den Problemen der Kyrillika
oder der russischen Schrift beschäftigt. Es ist nicht korrekt,
die lateinische Schrift als besondere Leistung des Abend¬
landes oder der «westlichen Welt» darzustellen, wir mü߬
ten eher von phöiükisch-griechisch-lateinischen Buchstaben
sprechen, zumindest sollte man betonen, daß die kyrillische
und die lateinische Schrift eine gemeinsame Wurzel haben.
Ich möchte mir erlauben, im folgenden einige Sätze aus
dem Aufsatz des 1969 verstorbenen Solomon Benedik-
to witsch Telingater zu zitieren: «Wir meinen, daß in
unserer Zeit keine einzige Reform irgendeines Alphabetes
auf kyrillischer oder lateinischer Grundlage erfolgreich sein
kann, sofern sie nicht die Kardinalfrage löst : das Finden all¬
gemeiner Grafeme für Alphabete auf lateinischer oder
griechisch-kyrillischer Grundlage.»52 Jeder Buchstabe be¬
steht aus seiner Grundform, seinem Grafem, das in seiner
historischen Entwicklung kaum Veränderungen unter¬
worfen war, und andererseits aus Elementen, die sich
grafisch im Verlauf der Geschichte ständig entwickelten.
Das Phonem, der Grundlautbestandteil der Sprache, wird
mehr oder weniger beständig in der vereinbarten grafi¬
schen Form durch das Grafem ausgedrückt. Die kyrillische
Schrift hat trotz der einschneidenden Reform durchPETER
den Grossen im Jahre 1710 noch eine Reihe von Archais¬
men, vor allem sind noch verschiedene Buchstaben links¬
läufig und machen gewisse Schwierigkeiten beim Schrei¬
ben. Selbstverständlich war dies auch eine der Ursachen,
daß sich das künstlerische Schreiben erst in den letzten
zehn Jahren in der Sowjetunion durchsetzen konnte. Fast
alle russischen Druckschriften der vergangenen zwei¬
hundert Jahre wurden direkt gezeichnet. Ein anderer
Grund besteht allerdings darin, daß sich die von William
Morris ausgehende Bewegung des Schreibens im zaristi¬
schen Rußland aus allgemeinen gesellschaftlichen Gründen
nicht durchsetzen konnte, und auch die ersten Jahrzehnte
der Sowjetunion waren selbstverständlich anderen Auf¬
gaben gewidmet. Gegenwärtige Arbeiten beweisen jedoch,
daß auch die Kyrillika prachtvoll geschrieben werden kann,
obwohl sie einige Besonderheiten aufweist.
Die Aufgabe besteht vor allem darin, in vielen prakti¬
schen Versuchen und unter erkennbarer Beibehaltung der
Grafeme neue Variationen der Buchstaben zu finden, die
ein Schreiben von links nach rechts ermöglichen und die
Beziehung zu den lateinischen Buchstaben betonen. Be¬
sondere Grafeme für die spezifisch slawischen Phoneme
würden wahrscheinlich bleiben, aber man sollte sich eini¬
gen, daß für dieselben Phoneme auch gemeinsame Grafeme
benützt werden. Dabei ist mir klar, daß für ein Gelingen
einer solchen Schriftreform noch manche Voraussetzungen
geschaffen werden müssen und daß das gesellschaftliche
Bedürfnis allgemein und eindeutiger erkannt wird.
Die unterschiedliche Entwicklung der Schriftformen im
lateinischen und im kyrillischen Schriftenbereich hat ihren
wesentlichen Grund wahrscheinlich bei den Kirchen. In der
Frühzeit der Schriftdifferenzierung hatten die römisch¬
katholische und die griechisch-orthodoxe bzw. die russisch¬
orthodoxe Kirche das Schreibwesen fast völlig in ihren
Händen. Die Schriftgrenzen decken sich weitgehend mit
den Grenzen der Kirchen. Sie verschoben sich mit einer
Veränderung der Einflußbereiche der Kirchen, und selbst
Unterschiede in den Liturgien bedeuteten eine Differenzie¬
rung der Alphabete. In diesem Zusammenhang sind die
relativ geringen Unterschiede zwischen der russischen, der
ukrainischen, der bulgarischen und der serbischen Kyrilli¬
ka bemerkenswert, aber am stärksten beeindruckt das
Festhalten an den historisch überlieferten Formen in einer
Zeit, in der Einfluß und Macht der Kirche auf das kulturelle
Geschehen in den Hintergrund getreten ist. Heute wird in
vier europäischen Sowjetrepubliken, in der litauischen, der
lettischen, der estnischen und der moldauischen SSR, die
lateinische Schrift verwendet, und in Estland genießt sogar
die Fraktur ein Heimatrecht, mehr als in Deutschland oder
einem anderen europäischen Land.
In einem Fachbuch über künstlerische Schrift erwartet
man besonders von einem deutschen Autor eine klare Stel¬
lungnahme zur Situation der Fraktur. Bereits in unserer
historischen Betrachtung wurde als Ursache der Schrift¬
spaltung in Deutschland die Reformation genannt. Schwa-
bacher und Fraktur sind ebenso wie die oberrheinische
Schrift und die Civilité Abwandlungen der gotischen
Bastarda, und diese Bastardaformen wurden vorzugsweise
für die Literatur in den Nationalsprachen verwendet,
während die gotische Textur, die Rundgotisch und später
52 Telingater, S.B.: Über das Grafem des Alphabets. In: Tipo¬
grafie. Leipzig 1965. Heft 1. Seite 21 ff.
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tlie humanistische Minuskel bzw. die Renaissance-Antiqua
für Werke in lateinischer Sprache eingesetzt wurden. Jan
Hus, Martin Luther und die anderen Reformatoren
predigten in der Volkssprache und schrieben die dazugehö¬
rige Schrift, die tschcchischeßastarda.dieSchvvabacher, die
Fraktur und die entsprechenden französischen, nieder¬
ländischen, polnischen und anderen nationalen Nachfolge-
schriften der gotischen Bastarda. Die deutsche Bibelüber¬
setzung von M artin Luther und die gesamte lutherische
Literatur wurde in Fraktur oder einer ähnlichen Schrift ge¬
druckt, und auch für die ersten in der Volkssprache ge¬
druckten evangelischen Bücher anderer Länder (z.B. in
Slowenisch und Estnisch) wurde die Fraktur verwendet.
Mit der Niederschlagung der religiösen Reformbewegung
in Frankreich, Österreich, der Tschechoslowakei und ande¬
ren Ländern, mit der Gegenreformation, verdrängte die
lateinische Schrift die Fraktur, und nur in wenigen Ländern,
vor allem in Deutschland, blieben Frakturformen noch bis
in die jüngste Vergangenheit lebendig. Ein langsames Ab¬
bröckeln des Einflußgebietes der Fraktur war seit der Zeit
der Aufklärung unverkennbar, und ein Übergang zur
Antiqua und zur lateinischen Handschrift war auch in
Deutschland früher oder später auf der Tagesordnung. Das
faschistische Dekret von 1941, durch das die Fraktur abge¬
schafft wurde, ist allerdings ein unwürdiges und schänd¬
liches Totenmal dieser schönen Schrift, in der prachtvolle
Leistungen der Schriftkunst überliefert sind.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es verschiedene
Kreise, die eine Renaissance der Fraktur herbeiführen
wollen, und leider sind dabei nationalistische Tendenzen
nicht zu übersehen. Um so wichtiger ist es, zur Klärung der
mit der Fraktur zusammenhängenden Probleme in der
Öffentlichkeit beizutragen. Die Fraktur wurde etwa seit
Bismarcks Zeiten mit überflüssigem deutschtümelndem
Ballast befrachtet, der schließlich ihren Untergang be¬
wirkte.
Die Fraktur und alle gebrochenen Schriften sind eine
historische Erscheinung. Viele und bedeutende Werke
wurden in Deutschland erstmals in Fraktur gedruckt, und
durch die Jahrhunderle entstanden in breiten Bcvölke-
rungsschichten starke Sympathien für diese Schriftform. Es
konnte allerdings nie bewiesen werden, ob die Fraktur oder
die Antiqua die für die deutsche Sprache geeignetere oder
lesbarere Schriftform ist. Alle, auch die wissenschaftlich
gemeinten Untersuchungen waren durch Voreingenom¬
menheit der Untersuchenden und die Lesegewohnheiten
der Versuchspersonen fragwürdig. Die Fraktur ist eine gut
lesbare Schrift, die besonders bei der Wiedergabe der kon¬
sonantenreichen deutschen Sprache interessante und leicht
erfaßbare Wortbilder ergibt.
Die Fraktur, die Schwabacher, die Rundgotisch, die
Gotisch und vor allem die vielen Varianten der gotischen
Bastarda gehören zum Schönsten der Schriftkunst über¬
haupt. Wer das Schriftschreiben auch jetzt und in der Zu¬
kunft richtig erlernen will, der sollte an diesen historischen
Formen nicht vorübergehen; ihre vielen Abwandlungen
mehren seinen Formenreichtum und regen seine Phanta¬
sie an, auch wenn er später durch seine Aufgaben der stren¬
geren Antiqua verpflichtet wird. Sicher hat die früher in
Deutschland bestehende Spannung zwischen Fraktur und
Antiqua auch schöpferische Wirkungen ausgelöst, anderer¬
seits wurde das künstlerische Wollen gespalten, und sowohl
in den Handschriften als auch in vielen Druckschriften er¬
gaben sich unerquickliche Mischformen.
Suchen wir nun nach den Gründen, die für eine Ablösung
der Fraktur als Gebrauchsschrift sprechen. Die immer
wichtiger werdende internationale Kommunikation wird
durch Bücher und Zeitschriften in Fraktursatz erschwert.
Das Erlernen beider Schriftarten erfordert bereits für die
Schulkinder einen größeren Zeitaufwand. Gewiß können
Kinder und Ausländer auch ohne vorangegangene Einfüh¬
rung Fraktursatz lesen, denn die Grafeme beider Schrift¬
arten sind identisch, aber die äußere Form der Fraktur ist
ungewohnt, und deshalb sind zum Lesen größere Energien
erforderlich. Für den wissenschaftlichen Satz ist die Fraktur
wenig geeignet, weil sie nur über eine Auszeichnungsart
verfügt; der Antiquasatz hingegen bietet für die Auszeich¬
nung die Kursiv, den Versalsatz, die Kapitälchen und die
Kursiv-Versalien. Schließlich stehen dem Setzer mit der
Garamond, der Baskerville, der Walbaum und einer gan¬
zen Reihe schöner und moderner Antiquaformen Schriften
zur Verfügung, die mit ihren vielseitigen und verschieden¬
artigen Ausdrucksmöglichkeiten den Gedanken an eine
Uniformierung von vornherein ausschließen. Auch die
technische Fertigung im Lichtsatz und die Reproduktion
im Tiefdruck bereitet bei der Fraktur wesentlich mehr
Schwierigkeiten als bei der Antiqua. Noch bedenklicher
würden die Schwierigkeiten, wollte man Lesecomputer
für die Fraktur programmieren.
Welche Rolle bleibt dann der Fraktur? Obwohl die Anti¬
qua Grund- und Leseschrift bleiben wird, können wir die
Fraktur und andere gebrochene Schriften zur Auszeich¬
nung verwenden. In der englischen Typografie ist es in
Akzidenzen durchaus üblich, eine Gotisch für die Über¬
schrift oder für andere Schlagzeilen einzusetzen. Um so
mehr sollte in jeder deutschen Druckerei wenigstens eine
der schönen gebrochenen Schriften vorhanden sein, und es
ist durchaus kein Risiko, wenn bestimmte Werke in Frak¬
tur gedruckt werden. Die Werke von Mörike, Stifter
und E1 с н e N D о R v F werden von Liebhabern gerne in Frak¬
tur gelesen, und wahrscheinlich ist für sie die Fraktur die
kongeniale Schrift. In den Grundschulen der beiden deut¬
schen Staaten sollte im Rahmen des Deutschunterrichts
wenigstens in einigen Stunden auf die Fraktur eingegangen
und das Lesen geübt, sollten möglicherweise die Zusam¬
menhänge dieser Schriftform mit der deutschen Literatur¬
geschichte erklärt werden.
Die Zukunft gehört eindeutig der Antiqua auch deshalb,
weil in ihr die für das Lesen so wichtigen Grafeme klarer
herausgearbeitet sind. In der Fraktur haben sich die Buch¬
staben durch die einheitliche Brechung und die Betonung
der Füßchen an den Kleinbuchstaben zu sehr angeglichen,
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