Man könnte nun fragen: Was haben solche ästhetischen
Überlegungen mit der Lesbarkeit zu schaffen? Sehr viel,
auch wenn die Lesbarkeitsforschung sich erst langsam dem
Fragenkomplex nähert, der mit der Kongenialität der
Schrift zusammenhängt. Es geht ja nicht nur und vielleicht
gar nicht in erster Linie um das geschwinde Erfassen von
Buchstaben, Wörtern und Sätzen an sich, es geht doch um
das Verstehen des Anliegens, das im Text vorgetragen wird,
es geht um die Aufmerksamkeit, die kongeniale Atmo¬
sphäre, es geht um die Stimmung und Übereinstimmung
des Lesers mit dem Autor.
Der Lehrer wird bei seinem Vortrag eine andere Aus¬
drucksweise wählen als im Gespräch mit seiner Frau oder
beim Einkaufen. Es geht ihm nicht um die Zahl der Worte
oder die Geschwindigkeit des Sprechens, er will vielmehr
den Lehrstoff so verständlich, so eindringlich wie möglich
den Schülern nahebringen. Welch interessante Aufgabe ist
es doch, Gedichte von Brecht, von Whitman oder von
Majakowski zu rezitieren. Bei einer falschen oder ober¬
flächlichen Betonung kann alles verdorben, kann die Ab¬
sicht des Dichters sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Die
kongeniale Rezitation durch einen guten Schauspieler ver¬
mag hingegen neue Bedeutungsinhalte des Gedichts zu
erschließen.
Und ähnlich ist es beim Lesen. Wenn Goethes Faust in
einer Zeitungsschrift gedruckt würde, die dem Leser durch
Alltagsmeldungen geläufig ist, könnte dieser sich nur
schwer in die dem literarischen Wert entsprechende Stim¬
mung versetzen. Muß nicht die Rezeption eines bedeuten¬
den Textes erschwert werden, wenn er in einer liederlichen
Hülle angeboten wird? Nicht ohne Grund ließ der deutsche
Dichter Stefan George unter Zugrundelegung seiner
eigenen Handschrift von Melchior Lechter eine rypo-
grafische Schrift entwerfen, die dann nur für seine Ge¬
dichte verwendet wurde. Dies mag ein Extrem sein, aber
die andere Forderung muß bleiben : Jeder Text braucht
eine kongeniale Schrift, es geht nichtnurumdasgeschwindc
Lesen, es geht um das Verstehen des Inhalts".
Eine Schrift soll lesbar, schön und ausdrucksvoll sein,
doch diese drei Eigenschaften sind nur verschiedene Seiten
derselben Sache, die wir in den nächsten Kapiteln weiter
untersuchen wollen.
ZUR METAMORPHOSE DER SECHSUNDZWANZIG LAUTSYMBOLE
U nsere Buchstaben sind Lautbilder, visuelle Zeichen, die
durch Konvention für bestimmte Laute stehen. So erfolg¬
reich sich die lateinischen Buchstaben auf dem Gebiet der
Wissenschaft und Kultur bewährten, so unvollkommen
sind sie bei der adäquaten Wiedergabe der Laute. Lehrer
und Kinder haben bei ihren orthografischen Übungen oft
bedauert, daß viele Wörter anders geschrieben als ge¬
sprochen werden, die unterschiedliche und andersartige
Aussprache im Französischen, im Englischen und im Deut¬
schen hat zu manchen Mißverständnissen geführt. Bereits
seit langem bemüht man sich in vielen Ländern um eine
phonetische Schreibweise oder Schrift, doch bisher mit
geringem Erfolg. Die meisten Vorschläge von Wissenschaft¬
lern haben eher abschreckend gewirkt wie z. B. das «Alpha¬
bet phonétique international», das PaulPassy in Paris
1890 veröffentlichte und allerdings siebenundsiebzig
Schriftzeichen empfahl. Und George Bernard Shaw
hatte, als er 1950 starb, in seinem Testament einen ansehn¬
lichen Betrag dafür bestimmt, eine «vernünftige» laut¬
getreue Schrift zu schaffen und zu propagieren. 1962 ging
endlich die gewünschte neue Schrift aus einem Preisaus¬
schreiben hervor, und dann wurde als erstes Buch Shaws
Komödie «Androcles and the Lion» in einer zweischriftigen
Ausgabe gedruckt. Aber bisher hat noch kein Verleger und
keine Behörde einen zweiten Druck in dieser Schrift ge¬
wagt, weil das neue Schriftbild zu befremdend wirkt, und
wie es scheint, ist die Zeit immer noch nicht reif für eine
Reform unserer Schreibweise, für eine lautentsprechende
Schrift.
Dabei drängt die technische Entwicklung eindeutig in
eine solche Richtung. Seit langem können wir die Töne der
Sprache mechanisch aufnehmen und mittels Schallplatten,
Tonbändern, Magnetscheiben und Magnetdrähten kon¬
servieren, vervielfältigen und durch entsprechende Wie¬
dergabe erneut phonetisch reproduzieren. Bereits heute
werden Bücher durch Schallplatten und Briefe durch Ton¬
träger ersetzt. Der technische Fortschritt ist im Begriff,
51 Näheres über die Bedeutung des Wortes «Bedeutung» bei:
Schaff, Adam: Einführung in die Semantik. Berlin 1966. Seite
189 ff.
Schrift ist das Bild der Stimme; je mehr es dieser gleicht,
desto besser ist es. Voltaire
auch die Schrift zu beeinflussen. Lesecomputer und com¬
putergesteuerte Lichtsetzmaschinen übernehmen gewisse
Bereiche der manuellen Satzarbeit. Bereits heute lehrt man
Computer, nach Diktat zu schreiben, aber diese Maschinen
machen Schriftzeichen notwendig, die den Sprachlautcn
entsprechen.
Offenbar entsteht liier ein Widerspruch, der nach einer
Lösung drängt. Auf der einen Seite verlangen die Com¬
puter nach einer modernen, ihren Maßstäben und tech¬
nischen Bedingungen entsprechenden Schreibart und
Schrift, und die übergroße Mehrzahl der Leser gebärdet
sich rückständig und will von diesem technischen Fort¬
schritt nichts wissen. Andererseits wiederholt sich der
Ärger, neben der Orthografie noch die andersartige Aus¬
sprache lernen zu müssen bei jeder Generation, aber das
Verhältnis der Menschen zu ihrer Schrift und den lieb¬
gewordenen Wortbildern bleibt weiter konservativ. Auch
Gutenberg hatte sich bei seiner technischen Revolution
den ästhetischen Leitbildern der gotischen Schriftkunst an¬
passen müssen, und ähnlich werden sich heute die Com¬
puter weitgehend den Maßen des Menschen anpassen und
nicht umgekehrt.
Der Widerspruch entstand nicht allein durch die Ver¬
änderung der Buchslabenform und ihre nicht genügende
Anpassung an die Sprachen, mindestens ebenso viel trugen
bei die unterschiedliche Lautbedeutung der Buchstaben in
den verschiedenen Sprachen und die orthografischen Vor¬
schriften. Ein Teil des Widerspruchs ließe sich lösen durch
eine Übereinkunft über die Lautbcdeutung der lateinischen
Buchstaben und eine Anpassung an die jeweiligen Sprachen
mit ihren Sonderlauten durch entsprechende Akzente.
Die Geschichte der Schrift beweist jedenfalls zur Genüge,
daß sich entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen
eilt Schriftzeichen aus dem andern entwickelte und der
Genesis der Bedeutung der Schriftzeichen51 ebenso die ge¬
sellschaftlich-historische Praxis zugrunde liegt. Es kommt
stets darauf an, die Bedeutung der Zeichen richtig zu ver¬
stehen. Manche Zeichen sind mehrdeutig, d.h., sie werden
unter verschiedenen historischen und örtlichen Aspekten
anders verstanden, das Entscheidende ist immer die Kom¬
munikation der Menschen untereinander. Die Semantik,
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