diese Werbe- oder Akzidenzschriften brauchen nicht in
erster Linie schnell und gut lesbar zu sein, sie sollen vor
allem auffallen, sich durch ihre originellen Formen ins Ge¬
dächtnis des Lesers einprägen. In der Fülle der Anzeigen
einer Zeitschrift soll eben die eine Anzeige durch eine be¬
sonders eigenwillige Schrift den Betrachter anspringen und
vielleicht gerade durch eine besonders schwere Lesbarkeit
zum Entziffern und Lesen reizen. Solche Schriften, die für
Zigaretten, Damenstrümpfe oder Benzin Reklame ma¬
chen, brauchen auch nicht unbedingt in den Proportionen
der Inschrift an der Trajanssäule oder im Geist von Claude
Garamond gehalten zu werden. Hier beginnt das Reich der
Modeschriften mit seinen eigenen Gesetzen und seiner be¬
sonderen Moral. Wohl soll alles mit gutem Geschmack ge¬
macht sein, aber entscheidend ist allein die Wirkung, der
Reklameerfolg. Hier sind fette Buchstaben, breite, schma¬
le, ornamentierte und Schreibschriften am Platze, also
Schriften, die allesamt eine geringere Lesbarkeit besitzen
als unsere klassischen Leseschriften. Man könnte hierbei
sachlich orientierte Formen von solchen mit einer bewußt
individuellen Note unterscheiden, wobei besonders die
letzteren sehr schnell ästhetischen Abnutzungserscheinun¬
gen unterliegen. Je moderner sich solche Schriften gebär¬
den, desto schneller werden sie unmodern.
Diese Worte sollen jedoch nicht falsch verstanden wer¬
den. Es wäre allzu ernst um das Schriftwesen bestellt, wenn
es nicht jene launigen, ungezügelten und manchmal skur¬
rilen Geschöpfe unter den Alphabeten gäbe, denen nur
eine kurze Lebenszeit beschieden ist. Man darf diese Buch¬
stabenkobolde allerdings nicht mit der ewiggültigen Elle
der Lesbarkeit messen wollen. Mir ist auch nicht bange,
daß es je eine Einheitsschrift gibt, die alle anderen Schriften
ablöst oder in sich aufhebt. Je sachlicher und logischer eine
solche Schrift wäre, desto schneller würde sie auf dem Ge¬
biet derWerbung romantische, spielerische, wilde und indi¬
viduelle Formen provozieren, die dann wie Magneten die
Augen der Leser auf sich ziehen. Die Werbung braucht Ab¬
wechslung und Neuheiten.
Auch in dieser Sphäre gibt es Repliken, Nachschöpfun-
gen älterer Schriften. Aber diese Nachbildungen sind aus
einem etwas anderen Geist erwachsen als die Schriften der
Renaissance-Epoche oder die ernsthaften Bemühungen von
William Morris, Cobden-Sanderson oder Bruce
Rogers. Wenn heute die Eckmann-Schrift und die anderen
Alphabete des Jugendstils eine Auferstehung feiern, dann
wissen alle Beteiligten, daß diese Mode bald wieder ver¬
schwindet und von einer anderen abgelöst wird. Doch die
Unterschiede dieser beiden Arten der Schatzgräberei sind
fließend, und es scheint mir nicht ausgeschlossen, daß auch
mit der modischen Schürfmethode echte Perlen gefunden
werden können.
Auch die Inschriften, die Beschriftungen von Schildern
an Häusern, Straßen und öffentlichen Gebäuden können
nicht mit demselben Maß gemessen werden wie Druck¬
schriften für längere Texte. Der Leseabstand, die Lichtver¬
hältnisse und die Textmenge sowie die Unter- oder Hinter¬
gründe weichen zu sehr von den Bedingungen beim Lesen
längerer Texte im Buch oder in anderen Drucksachen ab.
Gebäude-Inschriften sollten mit der Architektur harmo¬
nieren. Straßenbeschilderungen müssen auch von den
Kraftfahrern und bei unterschiedlichen Wetterbedingun¬
gen wahrgenommen werden können. Über alle diese An¬
wendungsgebiete der Schrift gibt es Spezialuntersuchun¬
gen.60
Das Problem der Lesbarkeit muß also stets in Beziehung
zur jeweiligen Aufgabe gesehen werden, für welche die
Schrift eingesetzt wird. Die Form der Schrift muß dem In¬
halt und dem Zweck entsprechen. Die Arten der visuellen
Kommunikation und die Formen der Schrift veränderten
sich in den Jahrhunderten entsprechend den sich ändern¬
den gesellschaftlichen Aufgaben. Die Lesbarkeit derSchrift,
die Möglichkeit des schnellen Lesens, steigerte und wan¬
delte sich in dem Maße, wie dies von der Gesellschaft als
notwendig angesehen wurde. Wahrscheinlich entsprechen
die gegenwärtigen Buchstabenformen der lateinischen
Schrift dem Vermögen unserer Augen, und der Rezeptions¬
fähigkeit wäre eher durch eine Straffung textlicher Ab¬
handlungen als durch eine wesentliche Veränderung der
Buchstabenformen gedient.
Die Fragen der Kongenialität der Schrift sollten nicht nur
im historischen Zusammenhang gesehen werden. Das An¬
gebot vieler guter Schriften macht jede Schriftwahl zu
einer Frage, deren richtige Lösung Kenntnisse und Ge¬
schmack erfordert. Es geht nicht nur darum, eine maximal
lesbare, sondern auch eine kongeniale Schrift einzusetzen.
Bei der Vermittlung sachlicher Mitteilungen spielt die
Frage der Kongenialität scheinbar eine untergeordnete
Rolle. Hier wird in fast allen Fällen eine sachliche, neutrale,
gut lesbare Schrift am Platze sein. Häßliche und schlecht
proportionierte Schriften hemmen aber bereits die Ver¬
mittlung sachlicher Mitteilungen. Die Schrift ist die Hülle
der Gedanken, und es ist ein Unterschied, ob dieses Äußere
der Gedanken einen guten oder schlechten Eindruck
macht.
In vielen Fällen soll jedoch die sachliche Mitteilung mit
einer emotionellen Beeinflussung verbunden werden. Und
bei den anderen Aufgaben der Schriftanwendung tritt die
emotionelle Tendenz zutage (Belletristik, religiöse Litera¬
tur, emotionell gesteuerte Werbung, Agitationsschriften).
Es wäre geschmacklos, die Werke von Dickens in einer
Grotesk, und zumindest abwegig, die Bibel in der Didot-
Antiqua zu setzen. Die Druckschriften unseres lateinischen
Alphabets sind behaftet mit den Merkmalen ihrer Entste¬
hungszeit und der Charakteristik des Künstlers, der sie
schuf. Es ist gar nicht möglich, die Form der Buchstaben
lediglich für das Lesbarmachen von Lauten zu präparieren.
Jede sinnliche Wahrnehmung ruft gleichzeitig Gefühle
hervor, auch wenn diese nicht bewußtseinswirksam wer¬
den.
50 Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein Werk hinweisen,
das etwa zur gleichen Zeit erscheinen wird: Korger, Hildegard:
Schrift und Schreiben. Fachbuchverlag, Leipzig 1971.
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ABCDEFGHI J
KLMNOPQRST
UVWXYZ
0123456789
Abbildung 412 Computerschrift von Adrian Frutiger. Die für i
Ähnlichkeiten in den Buchstabenformen
Das Auge sieht nicht nur die Dinge an sich, es sieht sie
direkt auch in ihrer Beziehung zu ihrer Umgebung und in
ihrer vielfältigen Beziehung zum Menschen selbst. Das
Lesen ist zuerst ein Wahrnehmen und erst danach ein Er¬
kennen der Laut- oder Wortbedeutung. Doch bereits im
Wahrnehmen ist ein bildhaftes Sehen eingeschlossen, und
jedes bildhafte Sehen löst Assoziationen und Gefühle aus.
Wir sind z.B. nicht in der Lage, eine Landschaft an sich zu
sehen ; wir sehen eine weite, eine hügelige, eine angenehme,
eine fremde, eine heimatliche, eine sympathische Land¬
schaft oder eine Landschaft, die uns nicht interessiert. Jedes
Gesicht, das uns begegnet, ist in ähnlicher Weise immer ein
ganz konkretes Gesicht, das sofort mit dem Wahrnehmen
eine praktische Erkenntnis über das Wesen und den Cha¬
rakter dieses Menschen impliziert. Selbst ein gerader
schwarzer Strich auf einem weißen Papier ist nicht nur ein
Strich, seine Stellung auf der Papierfläche und zum Be¬
trachter löst unmittelbar praktisch-ästhetische Gefühle aus.
Der Strich kann schweben, drücken, wegführen (wenn er
am Rande steht), er kann kräftig oder zart, energisch oder
zaghaft sein. In wieviel stärkerem Maße erkennt die Grafo¬
logie aus der Schriftform die Eigenschaften, den Charakter
und die Stimmung des Schreibers. Dieses Wissen um die
Besonderheit besitzen übrigens nicht nur die Experten,
eine gewisse Ahnung haben sogar Laien auf diesem Gebiet;
oft spürt ein Briefempfänger etwas von der Stimmung des
Schreibers, von seiner Erregung oder seinem Gelangweilt-
sein.
Und in ähnlichem Sinne haften jeder wahrgenommenen
Druckschrift gewisse Eigenschaften an. Eine Grotesk wirkt
konstruktiv, kühl, sachlich, nüchtern, und zwischen den
verschiedenen Groteskschriften kann man noch differen¬
zieren und feststellen, daß die Akzidenzgrotesk natürlicher
a b с d e f g h i j
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■seautomaten geschaffene Schrift OCR-B vermeidet çu große
und weniger rational, die Futura dagegen intellektuell und
vornehm, die Gill-Grotesk wiederum kunstgewerblich-
harmonisch im Ausdruck ist. Die klassizistischen Antiqua¬
formen gelten als hart, spitz und scharf, wobei sich die
Bodoni durch ihre klassische Harmonie, die Walbaum
durch eine gewisse Biederkeit und die Didot durch Witz
auszeichnet. Die Jenson-Antiqua wurde und wird wegen
ihrer vornehmen Einfachheit, ihren edlen Proportionen,
ihrer Sicherheit und Kraft als eine der schönsten Schriften
der Renaissance geschätzt. Ihr gegenüber besticht die Gara¬
mond durch Eleganz und Leichtigkeit, die bei der Gara¬
mond-Kursiv in eine heitere Anmut hinüberspielt. Selbst¬
bewußt-sicher, mit barocken Eigenwilligkeiten steht die
Caslon-Antiqua, origineller jedenfalls als die geistesver¬
wandte, aber mehr auf Schönheit und Harmonie bedachte
Baskerville. Und nicht nur die klassischen Schriften sind mit
Emotionen beladen, keine einzige der modernen Schriften
macht eine Ausnahme.
Auch solche Typen, die bewußt neutral sein wollen, spre¬
chen durch ihre ornamentale Form. Sie verraten die gei¬
stige Substanz ihrer Schöpfer, und man kann durchaus
Zurückhaltung und Bescheidenheit, bewußte Zucht und
Anpassung an technische Bedingungen unterscheiden von
Geistesarmut, Ideenlosigkeit, Mangel an Durchhaltevcr-
mögen gegenüber den Problemen der technischen Durch¬
führung. Eine Schrift verlangt von ihrem Entwerfer nicht
nur Können und Wissen, sondern auch Charakter und
Festigkeit, um alle Details einem einheitlichen Willen
unterzuordnen; denn alle Buchstaben, Ziffern und Zei¬
chen müssen auch im ästhetischen Sinne aus einem Guß
sein. Leider sind die schnell gemachten und nicht ausge¬
reiften Satzschriften in der großen Überzahl, und kommer¬
zielles Denken ist häufig ihre erkennbare Triebkraft.
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