PROBLEME DER LESBARKEIT
JL/ie Schrift dient in erster Linie dem Lesen, und es ist
jedermann durch eigene Erfahrungen klargeworden, daß
es Schriften gibt, die gut lesbar sind, und andere, die
schlechter gelesen werden können. Beim häufigen Lesen
schlechter Schriften sind sogar Augenschäden nicht ausge¬
schlossen. Schlecht lesbare Schriften führen zu Ermüdungs¬
erscheinungen der Augen, und das mit verminderter Auf¬
merksamkeit Wahrgenommene bleibt schlechter im Ge¬
dächtnis haften oder erreicht nur eine verminderte emo¬
tionelle Wirkung. Aus diesen Gründen sind Pädagogen,
Verleger, Werbefachleute und selbstverständlich alle, die
mit dem Lesen beruflich zu tun haben (und wer ist dies
nicht?), an der Klärung der damit zusammenhängenden
Probleme interessiert. Doch diese Interessen sind unter¬
schiedlich orientiert. Es genügt uns nicht, zu fragen, ob
eine Schrift an sich gut lesbar sei, wir wollen wissen, wofür
und für welche Lesebedingungen sie gut lesbar ist.
Die Geschichte der Lesbarkeitsforschung ist nahezu hun¬
dert Jahre alt. Bereits 1888 erschien in den USA eine Arbeit
über die relative Lesbarkeit der kleinen Buchstaben.41
Doch diese und die folgenden Untersuchungen betrach¬
teten die Buchstaben isoliert, wie sie von Augenärzten ge¬
zeigt werden, oder sie verwendeten bedeutungslose oder
sinnlose Wortgruppen, bzw. sie machten ihre Tests in
Leseabständen, die von den üblichen beträchtlich abwei-
41 S anFords, E.C.: The Relative Legibility of the Small Letters.
(Die relative Lesbarkeit der Kleinbuchstaben.) In : American Jour¬
nal of Psychology. 1888. Vol.i. Seite 402-435-
4a Tinker, M.A. and Paterson, D.G.: Studies of Typografical Fac¬
tors Influencing Speed of Reading. (Untersuchungen von typo-
grafischen Faktoren, welche die Geschwindigkeit des Lesens be¬
einflussen.) In: Journal of applied psychology. 1928. Vol. 12, Seite
359-368.
43 Paterson, Donald G. and Tinker, Miles A.: How to make type
readable.(\Vie man eine Schrift lesbar macht.) N.Y. HarperBroth.,
1940.
44 Burt,Cyrill: A Psychological Study of Typography. London/
New York. Cambridge University Press. 1959.
45 Ovink, G.W.: Legibility, Atmosphere-value and Forms of Print¬
ing Types. Leyden 1938.
46 ZACHRissoN.Bror: Studies in the Legibility of Printed Text.
Almqvist & Wiksell. Stockholm 1965.
Der Typograf. ..,der die speziell geeignete Schrift nicht gefunden
hat, hat zwar den Informationswert eines Textes nicht gemindert,
er hat jedoch eine Möglichkeit vergeben, den Wirkungsgrad des
Textes beträchtlich zu erhöhen. G. W.Ovink
chen. Erst die Arbeiten der beiden amerikanischen For¬
scher Paterson42 und Tinker43 brachten einen wesent¬
lichen Fortschritt.
Sie untersuchten einen relativ breiten Bereich von inter¬
essanten Fragen und zogen hierzu einen großen Kreis von
Versuchspersonen verschiedener Berufe und Altersstufen
heran.44 Später widmeten sich einige Forscher, vor allem
G.W.Ovink, CyrillBurt4S undBrorZachrisson",
spezifischen Problemen; z.B. welche Rolle die Vertrautheit
der Versuchspersonen mit denihnenvorgeführtenSchriften
spielt und welche Wechselbeziehungen zwischen der Kon¬
genialität und der Lesbarkeit bestehen.
Seit langem wurde festgestellt, daß zwischen dem buch¬
stabierenden Lesen und dem geläufigen Lesen grund¬
sätzlich unterschieden werden muß. Der Erwachsene liest
normalerweise, ohne daß die Buchstaben im einzelnen
wahrgenommen werden, ähnlich wie Wortbild- oder ideo-
grafische Schriften gelesen werden. Er erfaßt drei bis zehn
Buchstaben auf einen Blick, ein Wort oder zwei Wörter als
Ganzheit. Markante Konturen des Wortbildes, Ober- und
Unterlängen, der i-Punkt und ein eigenartiger Rhythmus
von runden und eckigen Buchstaben erleichtern die visuelle
Rezeption. Das Lesen des Erwachsenen ist ein sprunghaftes
Fortschreiten des Blickpunktes der Augen, die durch¬
schnittlich Vio Sekunden ruhen, um das Wortbild, die neue
Buchstabengruppe zu erkennen, dann weiterspringen, ge¬
legentlich auch auf eine schon gesehene Stelle zurückkeh¬
ren, um sich des gemeinten Sinnes zu versichern.
Daraus ergibt sich, daß es für die Lesbarkeit nicht genügt,
wenn sich die einzelnen Buchstaben möglichst klar vonein¬
ander unterscheiden, die Buchstaben müssen sich auch
leicht miteinander zu Wortgruppen verbinden können.
Dazu gehört eine gewisse Übereinstimmung in den Details,
dazu gehören die Serifen der Antiqua und dazu gehört ein
ausgeglichenes Graubild.
Die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Forschungen
können in folgenden Sätzen zusammengefaßt werden:
1. Die bekannten klassischen und modernen Textschrif¬
ten können ungefähr gleich gut gelesen werden. Die
meisten Leser nehmen die Unterschiede zwischen den
verschiedenen Schrifttypen nicht wahr.
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