Abbildung 22 Furchenwendige römische Lapidarschrift
Abbildung 23 Klassische römische Kapitale
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einführte, entspricht in ihren grafischen Merkmalen etwa
unserer Barock-Antiqua. In den vierziger Jahren des acht¬
zehnten Jahrhunderts begann man in Rußland Schriften zu
verwenden, deren Haupt- und Nebenstriche größere Kon¬
traste aufweisen, die «Gewöhnliche» und die «Elisabctha-
nische» ; beide entsprechen unserer klassizistischen Antiqua.
Das ukrainische Alphabet, das bulgarische und das serbische
weichen nur geringfügig von der russischen Schrift ab. Die
Schreibschriften und Druckschriften auf russischer und la¬
teinischer Grundlage entwickeln sich in immer stärkerer
formaler Übereinstimmung.
Die andere Richtung der Schriftentwicklung führt uns
zur Heimat unseres Alphabets, nach Rom. Bereits die frü¬
hen römischen Schriften sind von gewaltiger Bedeutung
für die gesamte lateinische Schriftkunst. Die wichtigsten
römischen Schriften sind die Scriptum quadrata mit ihren
formalen Abwandlungen, der klassischen römischen Kapitale,
die meist als Inschriftenschrift auftritt, und den Buchschrif¬
ten Quadrata und Rustika, sowie die römische Kursiv. Auf die
vielerlei Neben- und Zwischenformen kann in diesem Zu¬
sammenhang nicht eingegangen werden. Diese Formen
entstanden und veränderten sich mit dem Werden, der
Festigung und dem Zerfall des Römischen Reiches.
Einer der frühen italischen Stämme, die Etrusker, be¬
nutzte bereits ein Alphabet, das aus dem der frühen grie¬
chischen Handelsniederlassungen abgewandelt wurde. Als
im achten Jahrhundert v.u.Z. der römische Stadtstaat ent¬
stand, übernahm dieser die Kultur der Etrusker. Aus der
Frühzeit Roms, der Königszeit, sind keine Schriftdenk¬
mäler erhalten. Nach der Königszeit wurde die römische
Republik gebildet, die sich in der Zeit vom sechsten Jahr¬
hundert bis zum Jahre 264 ganz Italien militärisch unter¬
warf und in einen Staat der Sklavenhaltergesellschaft um¬
wandelte.
In diese Zeit fällt die Entstehung der lateinischen Schrift.
Die Römer übernahmen das Alphabet entweder von den
Etruskern oder von den griechischen Handelsstädten Un¬
teritaliens, deren Einflüsse noch lange nachwirkten. Die
ältesten lateinischen Inschriften reichen bis ins sechste Jahr¬
hundert v.u.Z. zurück. Die Beschriftung der Maniosspangc
aus dieser Zeit ist noch linksläufig, die Inschrift des schwar¬
zen Steines, der am Forum Romanum gefunden wurde,
bereits furchenwendig. Ebenso wie die griechische Schrift
wandelte sich auch die lateinische zur Rechtsläufigkeit.
Der Richtungswechsel wird im vierten und dritten Jahr¬
hundert abgeschlossen gewesen sein. Im ersten Stadium
der römischen Schrift waren die Einzelformen noch nicht
den Besonderheiten des Lateinischen angepaßt. V mußte
die Laute U und V ausdrücken, С ebenfalls К und G. Das
erste römische Alphabet umfaßte einundzwanzig Zeichen.
Überflüssig gewordene etruskische Zeichen, für die es im
Lateinischen keinen Lautwert gab, wurden zu Zahlzeichen.
In mehreren Wellen drang zur Zeit der römischen Repu¬
blik griechische Bildung nach Rom. In den Jahren der Er¬
oberung Griechenlands verbreiteten sich griechische Künst¬
lerorganisationen in Italien, griechische Philosophen, Leh-
Vergleiche die Abbildung auf Seite 25
rer, Künstler und Ärzte zogen in die Hauptstadt des Rei¬
ches. Die griechische Sprache begann in Rom heimisch zu
werden. Besonders die reich gewordenen Kaufleute und
Bürger interessierten sich für griechische Bildung,
Der Ausdruck der Buchstaben entsprach dem damaligen
formstrengen griechischen Alphabet. Die Figuren des ar¬
chaischen römischen Inschriftenalphabets bestanden ebenfalls
aus Strich, Kreis, Halbkreis, Winkel und deren Zusammen¬
setzungen. Die Buchstaben wurden im Schnurstrichcharak-
ter in einfacher Reihung ohne Wortzwischenraum anein-
andergestellt. Durch die weite Verbreitung der griechi¬
schen Sprache wurde das Y und Z aus der griechischen Schrift
übernommen und ans Ende des Alphabets angehängt. Für
die behauchten Laute des Griechischen benützte man die
Verbindungen CH, PH, TH. Spurius Carvilius Ruga
(230 v. u. Z.) soll das G durch Aneinanderfügen von Gamma
und С eingeführt haben.
Nach einer Zeit der verschärften Gegensätze zwischen
Senats- und Geldaristokratie, der Aufstände und Bürger¬
kriege am Ende der römischen Republik brachte die Epo¬
che der frühen Kaiserzeit von 20 v. u. Z. bis 290 eine zeitwei¬
lige Festigung der Staatsordnung. Das Kolonat, eine Vor¬
stufe der Hörigkeit, versuchte, freigelassene Sklaven am
Ertrag ihrer Arbeit zu interessieren. Reich gewordene
Händler und Bankiers verdrängten die konservative Schicht
der Großgrundbesitzer aus ihrer beherrschenden Stellung.
Das vervollkommnete Geldwesen ermöglichte den Kai¬
sern die Aufstellung einer ständigen Söldnerarmee. In Gal¬
lien und Spanien setzte sich in immer stärkerem Maße die
lateinische Sprache durch. Die römische Literatur erreichte
mit dem Ende der Republik und in der Kaiserzeit ihren
Höhepunkt mit Vergil, Cicero, Horaz, Ovid und
Juvenal. Neue Tempel, Foren, Thermen, Wasserleitun¬
gen, das Kolosseum und riesige Amphitheater wurden ge¬
baut, und den beutebringenden Siegern der Kriege errich¬
tete man Triumphbogen. Es war nicht selten, daß einfache
römische Soldaten lesen und schreiben konnten.
In enger Gemeinschaft mit der Architektur und dem
Dcnkmalbau formte sich die klassischerömische Kapitalschrift.
Es ist in diesem Zusammenhang üblich geworden, als be¬
stes Beispiel römischer Epigrafik die Inschrift der Trajans-
säule zu erwähnen. Auf ihre herrlichen, ausgewogenen Fi¬
guren orientierten sich alte und neue Schreibmeister, ja
sie gelten heute noch als die edelste Form unserer Versa¬
lien. Diese haben sich in den verflossenen zwei Jahrtausen¬
den unzählige Male verändert, aber nie wieder so klare und
harmonische Maßverhältnisse erreicht. Kühn und wuchtig,
logisch und überpersönlich stehen diese Buchstaben der
Trajanssäule vor uns. Sie sind ein letzter Glanz antiker
Kultur, sind die reifsten, köstlichen Früchte der vorange¬
gangenen Schriftentwicklung, die prachtvolle Krönung
eines vieltausendjährigen Ringens um eine schriftliche Aus-
drucksform. Wiederum ist es der Höhepunkt einer gesell¬
schaftlichen Epoche, der einen Höhepunkt der Schriftkunst
mit sich bringt; das klassische Rom prägte die Form unse¬
rer heutigen Großbuchstaben.
Abbildung 24 Schreiberin aus Pompeji
Abbildung 25 Kapitalschrift mit kursivem Einschlag
Abbildung 26 Ältere römische Kursiv. 2.Jahrhundert
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Abbildung 2j Quadrata
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Abbildung 28 Rustika