die als Papyrusrollen die Buchform der antiken Biblio¬
theken bildeten. Daneben wurde auch auf Stein, Holztafeln
und Tonscherben geschrieben. Als Schreibgerät benützten
die Ägypter dünne, vorn abgekappte Binsen, mit denen
man fette und feine Striche ziehen konnte. Mit diesem
Schreibwerkzeug wurde die hieroglyphische, die hieratische
und die demotische Schrift geschrieben. Die Tusche wurde
nach einem besonderen Rezept aus Ruß in einem vom
Schreiber ständig mitgeführten Schälchen angerieben und
hat ihre Deckkraft in den meisten Fällen bis auf den heuti¬
gen Tag erhalten.
Tacitus schrieb in seinen Annalen: «Als erste stellten
die Ägypter die Begriffe durch Figuren von Tieren dar,
diese ältesten Denkmäler menschlicher Erfindung sind
noch in Stein eingeschnitten zu sehen. Sie geben sich als die
Erfinder der Schrift aus. Von ihnen sollen die Phöniker, die
das Meer beherrschten, die Schrift nach Griechenland ge¬
bracht und den Ruhm erlangt haben, als hätten sie erfun¬
den, was sie nur übernommen hatten.»6 Doch ganz so ein¬
fach, wie Tacitus es sah, werden die Zusammenhänge
von der gegenwärtigen Paläografie nicht dargestellt. Im
Gegenteil, bei der Frage nach der Entstehung der phöni-
kischen Schrift, die schließlich zur griechischen weiter¬
leitete, ergibt sich ein Knäuel unterschiedlicher und ein¬
ander teilweise widersprechender Hypothesen. Parallel mit
der ägyptischen Entwicklung, nach den neueren For¬
schungen sogar noch einige Jahrhunderte früher, entstan¬
den auch im Zweistromland, zwischen Euphrat und Tigris,
ebenfalls aus der jungsteinzeitlichen Zeichenkultur, die
sumerischen Piktogramme. Auch in Sumer hatte sich ein
Staat der seßhaften Ackerbauern gebildet, auf dessen Bo¬
den verschiedene Getreidesorten sowie Flachs angebaut
wurden, wo die Töpferei und Keramik blühten, wo man
den Webstuhl kannte und das Rad und damit den Wagen
erfunden haben soll. Unter ähnlichen gesellschaftlichen
Abbildung 8 Babylonische Keilschrift
Bedingungen wie in Ägypten entwickelte sich eine Wort¬
bildschrift, die vor allem von den Priestern und dem Be¬
amtenapparat verwendet wurde. Die andersartigen
Schreibmittel führten jedoch zu anderen Schriftformen.
Statt Papyrus und Binsen verwendete man Lehmtafeln, in
welche die Piktogramme mit eckigen Holzstäbchen einge¬
drückt und die dann in der Sonne oder am Feuer getrock¬
net wurden. Aus dieser Abstraktion entstand die babylo¬
nische Silben-Keilschrift, die einen Phonetisierungsprozeß
durchlief und aus der die phonetisierte ugaritische Buch¬
staben-Keilschrift entstand. Varianten der Keilschrift wur¬
den bei vielen Völkern Vorderasiens, bei den Assyrern,
Hethitern, Kanaanäern, Persern und in Urartu verwendet,
doch die ugaritische Keilschrift war wohl die erste Schrift in
der Welt, die das Buchstabenprinzip völlig durchführte.
Sie bestand aus zweiundzwanzig Konsonantenzeichen und
acht zusätzlichen Zeichen, und die bisherigen Funde waren
in nordwestsemitischen und dem Phönikischen verwandten
Sprachen abgefaßt.
Aber andere Funde deuten wieder auf Zusammenhänge
der hieratischen mit der nordsemitisch-phönikischen Schrift.
Durch die Entdeckung alter Inschriften auf der Halbinsel
Sinai (1905) und Funde in Schichem, Gezer, Lachisch und
anderen Orten in Palästina (um 1930) war anscheinend das
Bindeglied' zwischen beiden Schriften gefunden worden.
Die ältesten prosinaitischen, kanaanäischen und sinaitischen
Schriften wurden auf die Jahre um 1800 v.u.Z. datiert. In
jener Zeit bestand nicht nur eine enge Handelsvcrbindung
zwischen Ägypten und den semitischen Ländern in der
Gegend des Jordan, vorübergehend hatte sogar ein semi¬
tisches Krieger- und Hirtenvolk, die Hyksos, Ägypten be¬
setzt, und es besteht die Möglichkeit, daß auf diesem Weg
die Kenntnis der Schrift zu den Phönikern gelangt ist.
In der sinaitischen Schrift erkannten die Paläografen sie¬
ben Zeichen, die aus den Hieroglyphen abgeleitet sind. Die
Semiten belehnten die übernommenen hieroglyphischen
Zeichen mit dem Lautwert ihrer Sprache und mit der
semitischen Bezeichnung. Formal hat die geschriebene
nordsemitische Schrift natürlich engere Beziehungen zu
der geschriebenen hieratischen Schrift als zu der mit Hölz¬
chen in Ton gedrückten ugaritischen Buchstaben-Keil¬
schrift. Aber auch mit diesem Hinweis bleiben die wesent¬
lichen Fragen nach der Herkunft der nordsemitisch-phöni¬
kischen Konsonantenschrift offen, bei deren Entstehung
(etwa im zwölften Jahrhundert v. u. Z.) auch kretische Ein¬
flüsse nicht ausgeschlossen werden können.
Zum nord- bzw. altsemitischen Schriftenkreis gehören
die phönikischen, die kanaanäischen und die aramäischen
Schriften. Die wichtigste dieser Schriftarten ist zweifellos
6 Tacitus: Historien und Annalen. Nach der Übersetzung von
K.F.Bahrdt. München 1918.
7 Die sogenannte sinaitische Hypothese wird gegenwärtig von ver¬
schiedenen Wissenschaftlern als überholt bezeichnet. Vergleiche
hierzu: Das Alphabet. Entstehung und Entwicklung der griechi¬
schen Schrift. Herausgegeben von Gerhard Pfohl. Darmstadt 1968.
Seite 217/18.
I6
die phünikische, deren Entwicklungslinie wir weiterver¬
folgen. Während von den kanaanäischen Schriften heute
keine wesentlichen Nachfolgeschriften mehr existieren,
bildeten sich aus den aramäischen die hebräische Quadrata,
die syrische und die arabische Schrift, die heute fast im ge¬
samten islamischen Religionsgebiet verwendet wird. Wel¬
ches sind nun die Gründe dafür, daß die Entwicklungslinie
der Schrift nicht in Ägypten, sondern zunächst von den
Phönikern weitergeführt wurde? Offensichtlich war es der
konservative Einfluß der ägyptischen Priesterkaste, die jeg¬
liche Neuerung wirtschaftlicher und kultureller Art be¬
hinderte. Solange die ökonomische Struktur des Sklaven¬
halterstaates unverändert auf dem Ackerbau beruhte, be¬
stand kein dringendes Bedürfnis nach Vereinfachung der
Formen. Beim Volk der Phöniker dagegen, dessen Haupt¬
erwerb der Handel war, drängte die ausgedehnte Handels¬
korrespondenz nach einer solchen Vereinfachung. Es ist
eine bemerkenswerte Tatsache in der Entwicklungsge¬
schichte der Schrift, daß die entscheidenden Schritte immer
dann getan werden, wenn ein Volk das schriftliche Aus¬
drucksmittel eines anderen, fremden Volkes übernimmt.
Phönizien lag im Schnittpunkt des Handels zwischen
Ägypten, der Kupferinsel Zypern und den Ländern des
Mittelmcercs. Das Handelskapital hatte diebeherrschende
Stellung in den phönikischen Stadtstaaten und den vielen
Kolonien und Niederlassungen an den Küsten des Mittel¬
meeres. Mit dem phönikischen Handel und den phöniki¬
schen Münzen verbreitete sich auch die schneller schreib¬
bare phönikische Schrift. Ihre Reichweite entsprach in die¬
ser Periode dem Einflußgebiet des Handels. Die Lage der
phönikischen Städte zwischen den großen Reichen der
Ägypter und Assyrer verhinderte jedoch die Entwicklung
eines selbständigen Staates; die phönikischen Städte waren
teilweise Ägypten, teilweise Assyrien tributpflichtig. Fehlte
in Ägypten der einflußreiche Handel zur Entwicklung einer
schneller schreibbaren Schrift, so mangelte den phöniki¬
schen Städten eine umfassende Staatsorganisation und eine
repräsentative Architektur zur Entwicklung einer reprä¬
sentativen epigrafischen Schrift. Das junge Volk der Grie¬
chen vereinte beides, Athen wurde zum unabhängigen und
führenden Handelsstaat des Mittelmcercs und übernahm
damit führend die Weiterentwicklung der Schrift.
Zu Beginn des ersten Jahrtausends v.u.Z. waren griechi¬
sche Stämme aus dem Innern des Balkans nach Süden vor¬
gedrungen und hatten die griechische Halbinsel, die ägä-
ischen Inseln und Gebiete der kleinasiatischen Westküste
besetzt. Ihre Siedlungen wuchsen schnell zu festen Städten,
in denen das Handwerk, besonders die Metallgießerei, die
Weberei und Töpferei, blühte. Sie schalteten sich in den
phönikischen Handel ein und verdrängten ihn nach einiger
Zeit aus ihrem Gebiet. Durch den erweiterten Handel
wurde die Einführung der Schrift notwendig. Zeugnisse
griechischer Schrift reichen bis ins achte Jahrhundert v.u.Z.
Ihre Ableitung aus dem phönikischen Alphabet ist erwie¬
sen, doch sind zyprische und kretische Einflüsse nicht aus¬
geschlossen. Schon die Namen der griechischen Buchstaben
weisen auf ihre semitische Herkunft: Semitisch aleph wird
zu alpha, beth zu beta, gimel zu gamma, dalcth zu delta.
Das phönikische Alphabet mußte allerdings für die indo¬
europäische Sprache umgeformt werden, da in den semi¬
tischen Schriften Vokale nicht geschrieben werden. Ver¬
schiedene freiwerdende Konsonantenzeichen wurden des¬
halb als Vokalzeichen übernommen : Aus dem aleph wurde
das A, aus dem H wurde das E, aus dem J wurde das I, aus
dem ajin wurde O, und für das U wurde das phönikische W
benutzt. Jahrhundertelang zeigten sich noch verschiedene
Schreibweisen bei den griechischen Landschaften. Im Laufe
der Entwicklung wurden einige Zeichen unter kretischem
und zyprischem Einfluß weiter verändert. Auf diese Weise
entstanden die Anfangsformen der griechischen Schrift.
Eine wichtige Änderung im Schreiben erfolgte etwa zur
Zeit S o L о N s (etwa 640 bis 560). Die älteren Schriften waren
linksläufig geschrieben, d.h., man schrieb, wie noch heute
bei den semitischen Völkern, von rechts nach links. Es mag
sein, daß diese Schreibrichtung für Rechtshänder die natür¬
liche war. Auch heute noch gibt es verschiedene linksläufige
Arbeitsverrichtungen, z.B. erfolgt das Schneiden mit der
Schere, das Nähen und Mähen von rechts nach links. Diese
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Abbildung y Frühe phönikische Schrift
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Abbildung 10 Frühe griechische Vaseninschrifl
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Abbildung 11 Griechische Kapitale auf Papyrus
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