Abbildung 351 Schrifitilel von Jan van Krimpen
karolingische Minuskel ohne die Bemühungen von Morris
kaum eine solche Form gefunden hätte.
А. М. С assandre ging mit seiner Grotesk-Antiqua Pei-
gnot, die 1937 bei Deberny & Peignot erschien, einen völlig
anderen Weg, der selbstverständlich zu keiner Buchschrift
führte, aber der französischen Akzidenztypografie neue
Wege eröffnete. Auch die übrigen wichtigen neuen fran¬
zösischen Schriften des zwanzigsten Jahrhunderts sind we¬
niger der Tradition verpflichtet als in anderen Ländern.
Die Vendôme der Fonderie Olive in Marseille ist eine
moderne Antiqua mit spitzdreieckigen Serifen nach Ent¬
würfen von François Ganeau, und sie erfreut sich mit
ihren sechs Garnituren in der französischen Buch- und Ak¬
zidenztypografie großer Beliebtheit. Die am weitesten aus¬
gebaute Schriftfamilie überhaupt ist gegenwärtig die Gro¬
tesk Univers des gebürtigen Schweizers Ad rían Frutiger ,
die bei Deberny & Peignot erscheint und gegenwärtig noch
weiter vervollständigt wird. Sieistgrafisch vorzüglich durch¬
gearbeitet, und die Grauabstufungen der verschiedenen
Garnituren, der schmalen und breiten, der mageren und
fetten Schnitte, können als nahezu ideal bezeichnet wer¬
den. Bei der Fonderie Olive wiederum erschienen zwei völ¬
lig andersartige und eigenwillige Groteskvariationen von
Roger Excoffon, die fette Compact und die Nord und
neuerdings die Antique Olive. Das Suchen nach neuen Aus-
drucksformen wird auch bei der dreidimensionalen Ver¬
salschrift Calypso und bei der individuellen Druckskript
Mistral desselben Künstlers erkennbar und könnte als ty¬
pisch für das französische Schriftschaffen der Gegenwart
bezeichnet werden.
Eines der wichtigsten Länder der lateinischen Schrift¬
geschichte war Italien, aber nach Bodonis glanzvollen
Schöpfungen waren im Konzert der lateinischen Schriften
keine italienischen Stimmen mehr zu hören, und auf
William Morris' Ruf zur Erneuerung kam aus Italien
nur vereinzeltes Echo. Aber in zunehmendem Maße wuchs
auch in Italien das Interesse an der Qualität neuer Schriften.
Erste Anregungen kamen von dem Mailänder Drucker
und Schrifttheoretiker Raffaello Bertieri, von dem
1911 unter dem Namen Inkunabula eine Replik der vene¬
zianischen Antiqua des Erhard Ratdolt erschien.
Brauchbarer und lesbarer war die klassizistische Antiqua
Paganini, die er in den Breitenproportionen einer Renais¬
sance-Antiqua 1928 gemeinsam mit A.Butti für die Tu¬
riner Schriftgießerei Nebiolo herausbrachte. A.Butti und
Aldo Novare s e schufen dann eine Reihe guter Schriften,
die für die Società Nebiolo typisch wurden. Aus ihrer ge¬
meinsamen Arbeit gingen hervor die aus dem Schreiben
entstandene Antiqua Athenäum, die klassische Versalschrift
Augustea mit einer schönen lichten Variante und die kon¬
struierte Grotesk Microgramma, die später mit anderen
Garnituren von Novarese unter dem Namen Eurostile
fortgesetzt wurde. Von den übrigen Schriften können nur
die wichtigsten genannt werden. Eine der besten Repliken
einer Egyptienne ist seine Egidio, die bereits in fünf Garni¬
turen vorliegt. Mit der Garaldus, einer Replik der Gara¬
mond- und der Aldusantiqua, weist er darauf hin, daß die
Garamond in starkem Maße den Aldusschriften verpflich¬
tet ist. Seine italienische Ausgabe der modernen Grotesk¬
schriften, die Recta, ist allerdings grafisch nicht so durch¬
gefeilt wie etwa die Helvetica und die Univers. Von verschie¬
denen Akzidenzschriften möchte ich die Fontanesi, eine
ornamentierte Versalschrift im Charakter des achtzehnten
Jahrhunderts, hervorheben.
Einen anderen, fast klassischen Ausdruck haben die
Schriftzeichnungen des in Weimar geborenen Druckers
und Schriftkünstlers G10 vanni M ardersteic, der in der
Officina Bodoni im Auftrag des italienischen Staates die
Typen und Stempel Bodonis verwaltet und ebenso wie mit
eigenen Schriften vorbildliche Pressendrucke herstellt. 1931
erschien von ihm die Fontana, eine Replik einer englischen
Übergangsschrift, die später auch von der Monotype über¬
nommen wurde. Eine der schönsten Antiquaschriften des
zwanzigsten Jahrhunderts ist seine Dante-Antiqua, die eben¬
falls für die Officina Bodoni entworfen und von der Mono¬
type übernommen wurde.
Erst relativ spät und wahrscheinlich im engen Zusam¬
menhang mit dem Zuzug emigrierter Schriftkünstler und
Typografen wie Imre Reiner und Jan Tschichold ge¬
langte auch die Schweiz in die vordere Reihe des Schrift-
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Schaffens. Ein vom Bauhaus übernommener typografischer
Stil bevorzugte die Grotesk, und es ist kein Zufall, daß die
Pariser Firma Deberny & Peignot für ihre Grotesk Univers
einen Schweizer ins Land holte. Eine vielleicht noch besser
durchgefeilte Grotesk, die Helvetica, schuf in langwähren¬
der Arbeit Max Miedinger für die rührige Haasschc
Schriftgießerei in Basel-Münchenstein. Ursprünglich wurde
die Schrift Haas-Grotesk oder Neue Haas-Grotesk benannt,
aber nachdem sie von der Firma Stempel in Frankfurt/
Main und von der Linotype in den Handel gebracht wor¬
den war, erhielt sie ihren jetzigen Namen. Ebenfalls nach
Miedingers Angaben wurde bei Haas die reizvolle Italienne
Pro arte geschnitten, Ein ganzes Dutzend interessanter
Schriften entwarf der aus Deutschland vertriebene Imre
Reiner für verschiedene Schriftgießereien, von denen die
Reiner-Script, die Reiner Black und die London-Script Beach¬
tung verdienen und die alle dem handschriftlichen Schrei¬
ben zu danken sind. Über gute grafische Qualitäten ver¬
fügt die Diethelm-Antiqua, die Walther Diiïthelm für
die Haassche Gießerei und für die Linotype zeichnete, auch
seine plastische Steinschrift Sculptura verdient eine Hervor¬
hebung. Der bekannte Schweizer Typografiker Max Caf-
lisch entwarf ein in seiner Art vollkommenes Alphabet
konturierter klassischer Versalien, die unter der Bezeich¬
nung Columna von der Bauerschen Gießerei bezogen wer¬
den können.
Eine interessante Neuerung im Schriftwesen war die
nach den Entwürfen von Jan Tschichold gleichzeitig
von der Schriftgießerei D.Stempel AG., von der Monotype
und der Linotype herausgebrachte Sabon-Antiqua. Diese
Neuzeichnung der alten Garamond-Antiqua beachtete alle
technologischen Bedingungen der identischen Breiten für
Antiqua, Kursiv und Halbfette bei der Linotype ebenso wie
die Festlegung der Buchstaben auf achtzehn Einheiten bei
der Monotype, und dadurch konnte den Druckern eine
für beide Maschinensysteme und für den Handsatz völlig
identische Schrift angeboten werden.
Auch in Österreich hatte der Sezessionsstil, wie der Ju¬
gendstil dort genannt wurde, nicht nur Einfluß auf Archi¬
tektur und dekorative Raumgestaltung, sondern ebenso
auf die Schrift. Josef Olbrich und Joseph Hoffmann,
die führenden Vertreter der Wiener Sezession, hatten be¬
reits vor der Jahrhundertwende die phantastischen Über¬
treibungen des Jugendstils in der Richtung auf das Funk-
tionell-Begründbare verändert. Und der SchriftTheoretiker
und Schriftkünstler der Wiener Gemeinschaft, Rudolf
von Larisch, betonte die ornamentale Funktion der
Schrift. Er führte die Einzelbuchstaben auf ihre geometri¬
schen Grundformen Kreis, Strich, Dreieck und Rechteck
zurück, um sie dann in seinen Schreibbeispielen mit dem
Quellstift und der Schnurzugfeder auszuspielen. Ganz im
Sinne des Art nouveau wurden die unbedeckten Räume
der Buchstaben und der Schriftfläche, die Punzen, Wort¬
zwischenräume und der Durchschuß bewußt in die Kom¬
position einbezogen. Seit 1902 wirkte Larisch als Schrift¬
dozent an der Wiener Kunstgewerbeschule und veröffent-
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RUDOLF.V.
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Abbildung 352 Eigenmarken von Rudolf von Larisch
lichte verschiedene Lehrbücher über die ornamentale
Schrift. Wenn die österreichischen Schriftkünstler im Ent¬
wurf von Satzschriften kaum in Erscheinung getreten sind,
so mag dies auf das Fehlen einer selbständigen und bedeut¬
samen Schriftgießerei in Österreich zurückgeführt werden.
Von Larisch könnte man die Plinius, eine Antiqua im Re¬
naissancetypus, nennen, und der Österreicher Carl Otto
С z e s с н к a , der auch zum Larisch-Kreis gerechnet werden
kann und 1908 nach Hamburg berufen wurde, entwarf ver¬
schiedene Schriften im Geiste der damals in Deutschland
üblichen Künstlerschriften.
Auch die Tschechoslowakei wurde durch die englische
Reformbewegung und die Wiener Schule von Larisch
beeinflußt. Führende Künstler, die sich mit der Schrift¬
form beschäftigten, waren Frantisek Kysela, V.H.
Brunner und JaroslavBenda, der sich vor allem mit
den besonderen Problemen der tschechischen Akzente be¬
schäftigte. Eine typisch tschechische und sehr expressive
Antiqua schuf VoijtéchPreissig, der 1944 von den deut¬
schen Faschisten ermordet wurde. Unter der Schirmherr¬
schaft der Prager Industriedruckerei und der Leitung des
verdienten Typografen Method Kaláb entstanden die
klassizistische Tusar-Antiqua und die fette Svolinsky-Antiqua.
Zur Gruppe der Künstlerschriften müssen wohl die Ent¬
würfe des Direktors der Prager Staatsdruckerei Karel
Dyrynk gezählt werden, von denen die Malostranskd-An-
tiqua und ihre etwas kalligrafische Kursiv eine besondere
Hervorhebung verdienen.
Eine überragende Rolle im Schriftschaffen der Tschecho¬
slowakei spielte Oldrich Men hart (1897 bis 1962), der
einer der besten Kalligrafen unseres Jahrhunderts genannt
werden kann. Am bekanntesten wurde seine Menhart-
Antiqua, die 1930/31 bei der Bauerschen Gießerei heraus¬
kam, interessanter und eigenwilliger ist die mit starken
Druckstellen temperamentvoll geschriebene Manuskript,
am häufigsten verwendet wird wahrscheinlich in der CSSR
heute von den Schriften des Meisters seine Antiqua Figurai,
die 1948 in Prag gegossen wurde und jetzt von der Schrift¬
gießerei Grafotechna herausgegeben wird. Zu den schön¬
sten Repliken der alten Unziale gehört die Tschechische Un¬
ciale von Menhart, die von einer meisterlichen Kenntnis
der historischen Formen und einer ebenso glänzenden Be¬
herrschung des Schreibwerkzeugs zeugt. Und zum Schluß
soll noch die lichte Versalschrift Monument erwähnt wer¬
den, in der die individuellen künstlerischen Eigenheiten
Vergleiche die Abbildung auf Seite 231
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