die Schriften Bodonis ab. Er spricht von einer «plumpen
Verdickung und vulgären Verdünnung der Striche» und
kritisiert den ärmlichen Verzicht auf ornamentale Berei¬
cherung. In seinem Schriftschaffen knüpfte er wieder bei
der Buchkunst der Renaissance an, besonders bei den vene¬
zianischen Wiegendrucken. Er ließ fotografische Vergrö¬
ßerungen von Jensontypen anfertigen und studierte sie.
Ende 1890 entstand daraus die berühmte Golden Type.
Nach einem Studium der Typen von Schöffer, Zainer,
Mentelin und Koberger zeichnete er seine Troy Type
und Chaucer Type, gotische Schriften, die er persönlich hoch
einschätzte. Trotz einer Kritik an seiner konservativen
Einstellung - Morris benutzte z.B. prinzipiell nur Hand¬
pressen - bleibt es sein Verdienst, durch den Hinweis auf
die handwerkliche Qualität die darniederliegende Schrift-
und Druckkunst wieder zu neuem Anstieg angeregt zu
haben.
Wenige Jahre nach Gründung der Keimscott Press ent¬
standen in England verschiedene Privatpressen, die mit
eigenen Typen druckten. Bereits 1894 wurde in London von
D.H.St. John Hornby die Ashendene Press gegründet,
die mit der Ashendene Type, einer Replik der Gotico-Antiqua
von Swe YNHEiM und Pannartz vom Jahre 1465, druckte.
Neben der Eragny Press und der Vale Press soll vor allem
die Doves Press hervorgehoben werden, die T.J.Cobden-
Sanderson gemeinsam mit Em ery Walker in dem Lon¬
doner Stadtteil Hammersmith eröffnete. Die von Emery
Walker gezeichnete Doves Type ist eine sehr schöne Nach¬
ahmung der Jenson-Antiqua, wesentlich schöner jeden¬
falls als die Golden Type, und rechtfertigte das Anliegen
der Doves Press, die nur rein typografische Bücher druckte.
Wie Cobden-Sanderson die Beziehungen zwischen der
Druckschrift zur geschriebenen Schrift sah, mögen die fol¬
genden Worte erhellen: «DerDrucker setzt im Druck die
Tradition des Schreibers fort, und zwar des Schreibers
auf der Höhe seiner Kunst. Als diese Tradition mit der
Zeit ausstarb, verfiel auch die Kunst des Druckers. Es ist
die Aufgabe des Schreibkünstlers, die Kunst des Druckers
wieder zu beleben und zu ihrer ursprünglichen Reinheit
und Vollkommenheit zurückzuführen. Der Drucker muß
gleichzeitig Schreiber sein oder mit einem Schreiber zu¬
sammenwirken, und die Offizin muß mit einer Schreib¬
schule verbunden sein, in der Schriftkunst ausgeübt und
das Zeichnen von Buchstaben lebendig erhalten werden
kann. Ein weiterer Beweis für die Abhängigkeit des Drucks
von der Schrift ist die große Erneuerung des Druckwesens,
die unter unseren Augen stattfindet; sie ist das Werk eines
Druckers, der, bevor er Drucker wurde, Schreibkünstler
oder Illustrator war, William Morris.»84
Morris' Beispiel beim Nachschreiben alter Manuskripte
hatte den Arzt Edward Johnston nach vorangegange¬
nen Studien in den alten Schreibtechniken bewogen, seine
Praxis aufzugeben und im Sinne der alten Schreibmeister
zu arbeiten. Er erwarb sich die Fähigkeiten, Kielfedern zu
schneiden und Unzialschriften, gotische Schriften, Antiqua
und Kursiv zu schreiben und zu vergolden wie die alten
Illuminatoren. Bereits 1899 begann er mit dem Unterricht
an der Central School of Arts und an der Cumberwell
School of Art. Zu seinen ersten Studenten gehörten Cob¬
den-Sanderson, Eric Gill und Anna Simons. 1906
erschien die erste Auflage seines grundlegenden Buches
«Writing and Üluminating and Lettering». Die Auswirkun¬
gen von Johnstons schriftstellerischer und pädagogi¬
scher Arbeit zeigten sich in den nächsten Jahrzehnten
an den Kunstgewerbeschulen vieler Länder, und auch die
Schreibfederfabriken taten das ihrige, durch die Herstel¬
lung geeigneter Schreibwerkzeuge und entsprechender
Propaganda die moderne Schreibkunstbewegung zu un¬
terstützen.
Gemeinsam mit Johnston widmete sich Eric Gill,
der Bildhauer und Schriftkünstler, den Inschriften-Schriften,
und seinem Einfluß ist es zu danken, daß die Qualität der
Straßenschilder, der Hausnummern, vieler Schilder und
und Inschriften im Stadtbild von London erfreulich gut
ist und manchen anderen Städten zum Vorbild dienen
könnte. Johnston erhielt den Auftrag, eine Schrift für
die Londoner Untergrundbahn zu entwerfen, und lieferte
1916 die Zeichnung einer geschriebenen Grotesk in den
Proportionen der klassischen Antiqua. Eric Gills bedeu¬
tendste Druckschriften sind seine Gill-Grotesk, die eine ähn¬
liche Auffassung wie Johnstons eben erwähnte Schrift
zum Ausdruck bringt, und die Perpetua-Familie mit der
eindrucksvollen und feierlichen Perpetua-Titelschrift, die
Gill beide für die Monotype-Gesellschaft entwarf. Gills
vorzügliche Kenntnis der römischen Monumentalschriften
dokumentiert sich auch in den Versalien, die er 1928 für
die Golden Çockerell Press schuf. Weniger geglückt schei¬
nen mir die Kursivschriften Gills, die wie die Kursiv der
Aries Type und der Joanna Type etwas zu steif und zu förm¬
lich wirken. Am Beginn der für das Schriftschaffen bedeu¬
tungsvollen Arbeit der Monotype Corporation steht eine
bemerkenswerte Schrift, die Imprint, eine sehr freie Ab¬
wandlung der in England beliebten Caslon-Antiqua, an
deren Zustandekommen neben Johnston auch G e r a r d
MEYNELLundJ.H.MASON beteiligt waren.
Einen der größten Erfolge im Schriftschaffen unseres
Jahrhunderts erbrachte die Times New Roman, die 1932 aus
einem Wettbewerb der Tageszeitung «The Times» hervor¬
ging. Bereits Jahre zuvor hatte der bekannte Schrifttheore¬
tiker Stanley Morison mit Untersuchungen und Vor¬
arbeiten begonnen, und nachdem über 7000 Probestempel
angefertigt worden waren, entstand eine gut lesbare, aus¬
gewogene und relativ neutrale Schrift im Charakter der
Übergangsschriften, die von den Gesellschaften Monotype,
Linotype und Intertype übernommen wurde. Heute wird
diese Schrift nicht nur für viele Zeitungen, sondern auch
für wissenschaftliche und sogar belletristische Bücher ver¬
wendet. Stanley Morison hat auch als künstlerischer
Berater der Monotype Corporation wesentlich zum Schrift-
34 Nach Cobden-Sanderson: The Ideal Book or the Book Beauty-
ful. Hammersmith: Doves Press. 1901.
206
schaffen der Gegenwart beigetragen. Besonders hervorzu¬
heben ist seine Schatzgräbertätigkeit beim Auffinden klas¬
sischer Schriften, die in Überarbeitungen unter seiner Lei¬
tung zum Grundbestand der Monotype und zu einem
Wesenszug der neueren Schriftentwicklung gehören.
Durch ihren schnellen industriellen Aufschwung und den
Eifer ihrer Schriftgießereien und Setzmaschinenfabriken
erreichten die USA bereits vor der Jahrhundertwende eine
führende Stellung im internationalen Schriftschaffen. Die
ästhetischen Anschauungen veränderten sich ähnlich wie in
England und führten zu einem Ende in der Vorherrschaft
des Historismus.und Eklektizismus. Nachdem die Old
Style im Mutterland einige Erfolge gehabt hatte, erschien
bereits 1863 bei der Firma Dickinson Foundry in Boston die
Franklin Old Style. Einen großen kaufmännischen Erfolg er¬
rang eine andere Schrift im ähnlichen Typus, die Bookman
der American Typefounders. Nicht minder bedeutsam
wurde die von L.B.Benton um 1890 gezeichnete Century
Old Style, die von den großen Setzmaschinenfabriken Mono¬
type, Linotype und Intertype übernommen und zu einer
umfassenden Familie ausgebaut wurde.
Mit großer Begeisterung wurden Morris' Ideen in den
USA aufgenommen. Seit 1895 druckte William H.Brad-
ley in Springfield Mass. auf der Wayside Press in seinem
Sinne die Monatsschrift His Book, die großen Einfluß auf
das amerikanische Buchschaffen hatte. Bereits 1893 war in
Boston von Daniel Berkeley Updike, einem vorzüg¬
lichen Historiker vor allem der amerikanischen Druck¬
schriften, die Merrymount Press gegründet worden, für die
B.G.Goodhue die Merrymount Type zeichnete. Als häufig
nachgeahmtes Ideal galt seit William Morris die Anti¬
qua von Nicolaus Jenson, und in den USA war es der
erfahrene Buchkünstler Bruce Rogers, der 1902 für die
Riverside Press unter dem Namen Antiqua Montaigne eine
neue Variante dieser Renaissance-Antiqua herausbrachte.
Nach einer gründlichen Überarbeitung hatte sie später
unter dem Namen Centaur großen internationalen Erfolg.
Der erfolgreichste Type-Designer der Epoche, die durch
Morris angeregt wurde, war Frederic W.Goudy, der
für verschiedene Schriftgießereien arbeitete und schlie߬
lich, nachdem er bereits vordem die Village Press geleitet
hatte, 1926 die Village Type Foundry gründete. Von den
über hundert Schriftentwürfen seiner Hand können her¬
vorgehoben werden: die Garamont und die Italian Old Style
der amerikanischen Monotype sowie die Kennerley Old Style
und die Deepdene der Village Letter Foundry. Seine be¬
kannteste Schrift ist wohl die Goudy Old Style, die bereits
1915 für die American Type Foundry gezeichnet und spä¬
ter von M.F.Benton ergänzt wurde. Fast alle Schriften
Goudys sind Repliken und Abwandlungen von Renais¬
sanceschriften, und auch in diesem Sinne war er William
Morris verpflichtet. Goudys überragende Stellung im
Schriftschaffen der USA wurde durch seine vielen Auf¬
träge für die amerikanischen Schriftgießereien in den zwan¬
ziger Jahren weiter gefestigt. 1930 erschienen seine Trajan-
Titelschrift und seine Mediäval bei der Continental Type¬
founders Association, und 1932 und 1937 kamen bei der
Firma Lanston Monotype seine Schriften Franciscan und
Friar heraus.
Bemerkenswert für die Schriftentwicklung der USA ist
eine umfangreiche Schriftfamilie, die Oswald Cooper
unter dem Namen Cooper Old Style für die Firma Barnhard
Brothers &C Spindler zeichnete und die neben der Ohio aus
dem Jahre 1907 längere Zeit das Bild der amerikanischen
Akzidenztypografie beeinflußte. Für die Linotype arbei¬
tete der bekannte Kalligraf und Type-Designer William
Addison Dwiggins, dessen Schriften Elektra, Caledonia
und Eldorado wenigstens namentlich erwähnt werden soll¬
ten. Enge Beziehungen zur tschechischen Schriftkunst las¬
sen die Entwürfe des Tschecho-Amerikaners Rudolf
Rucicka erkennen, dessen 1939 ebenfalls bei der ameri¬
kanischen Linotype erschienene Schrift Fairfield beachtliche
grafische Qualitäten aufweist.
In den Niederlanden war der Einfluß der Pressenbewe¬
gung von Bedeutung, und später übernahmen die beiden
Schriftgießereien Joh. Enschedé en Zonen in Haarlem und
die Lettergieterij Amsterdam eine aktive Rolle in der
Schriftentwicklung. S.H.deRoos schuf für die Letter¬
gieterij eine Reihe sehr schöner Schriften wie die Hollandse
Mediaeval, die Zilver Type, die Erasmus, die Grotius, die Mei-
doorn und die De Roos Romein, die auch von den amerika¬
nischen Gesellschaften Intertype und American Type¬
founders gegossen wird. Auch die zarte neoklassizistische
Egmont, die bereits 1933 in Amsterdam auf den Markt kam,
wurde 1937 von einer amerikanischen Firma, von Intertype,
übernommen. Bemerkenswert im Schaffen von de Roos
erscheint mir noch die 1939 veröffentlichte Simplex, eine
serifenlose Unzialform, die Groß- und Kleinbuchstaben in
einem Alphabet vereint und möglicherweise den Weg zu
einer weiteren Vereinfachung unserer Schriftformen, weist.
Für die altehrwürdige Firma Enschedé en Zonen arbei¬
tete der nicht minder bedeutsame Jan van Krimpen.
Ziemlich verbreitet ist seine auch bei der Monotype vor¬
handene klassische Lutetia mit einer schönen schmalen Kur¬
siv. Als Meister der Kalligrafie erweist sich van Krimpen
bei der Cancellaresca Bastarda mit ihren bewegten Zicr-
versalien, die als Ergänzung zu der Renaissance-Antiqua
Romidus geschaffen wurde, deren lichte Versalien eine be¬
sondere Erwähnung verdienen. Sie wurde ebenso wie die
harmonische und gut lesbare Spectrum in das Lieferpro¬
gramm der Monotype übernommen. Mit der hervor¬
ragenden Replik Van Dijck Roman setzte er dem großen
holländischen Schriftkünstler ein achtungsvolles Denkmal,
das daran erinnert, daß Holland in der Gegenwart an die
großen Traditionen seiner Schriftkunst im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert anknüpft.
Frankreich und die anderen romanischen Länder blie¬
ben eigenartigerweise von der Arts and Crafts Movement
fast unberührt. In Frankreich könnte man nur die Schrift
Cochin von G.Peignot nennen, die 1912 in der Pariser
Schriftgießerei Deberny &Í Peignot erschien und mit ihrer
Anlehnung der Proportionen ihrer Kleinbuchstaben an die
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