DER AUFSCHWUNG DER SCHRIFTKUNST IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT
JL/as letzte Jahrhundert unserer Schriftgeschichte ist am
schwersten einzuschätzen, zum einen, weil der zeitliche
Abstand zu den Leistungen der letzten Jahre für einen kla¬
ren Überblick noch nicht ausreicht, zum andern ist es fast
ausgeschlossen, eine objektive Auswahl jener Schriften und
jener Künstler zu finden, die in einem Fachbuch über die
Schriftkunst genannt werden müssen. Es kann nicht meine
Absicht sein, einen vollkommenen Überblick über die
Satzschriften anzustreben, andererseits müssen zum Ver¬
ständnis des gegenwärtigen Standes einige Zwischenstufen
und Schriften erwähnt werden, über welche die Zeit an¬
scheinend schon hinweggegangen ist. Eine weitere Frage
war, ob die Gliederung dieses letzten historischen Kapitels
nach den kunstgeschichtlichen oder ästhetischen Strömun¬
gen und Tendenzen zu erfolgen hätte (etwa Art nouveau -
Künstlerschriften - Konstruktivismus - wissenschaftlich de¬
terminierte Schriften), nach Ländern, nach Künstlern oder
nach Schriftgruppen. Den Ausschlag für die schließlich ge¬
wählte Gliederung gab die Absicht, das künstlerische An¬
liegen möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen. In
dem Kapitel über die schönsten Satzschriften der Gegen¬
wart werden dann die Probleme der Klassifizierung näher
behandelt.
In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
hatten die Schrift- und die Typenkunst einen Tiefstand
erreicht. Aber was waren die Ursachen dieses Verfalls?
Die Bindung der Leseschriften an die geschriebene Form
schien vergessen, an ihre Stelle waren Virtuosität der Zeich¬
nung und mechanische Korrektheit getreten. Die Stempel¬
schneider waren seit Beginn der Buchdruckerkunst Kunst¬
handwerker gewesen, nun beschränkte sich ihre Arbeit auf
das gewandte Nachstechen oder spekulative Verändern
gegebener Vorlagen. Nachdem die Schriftformen der ver¬
gangenen Jahrhunderte eklektisch plagiiert worden wa¬
ren, stellte die Stilverwirrung mit der sogenannten Freien
Richtung, bei welcher willkürlich alle Stile miteinander ge¬
mischt wurden, den seichten Brotschriften peinliche Akzi¬
denzschriften zur Seite. Von den Druckern wurde dieser
Zustand geistiger Öde und Zügellosigkeit kaum noch wahr¬
genommen. Die Erneuerung kam aus einer anderen Rich¬
tung.
Die Schriften sollten von einem Künstler entworfen werden und
nicht von einem Techniker. William Morris
Es waren Architekten, Maler und Dichter, die sich am
Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit den Formen der
Schrift beschäftigten. Der Eklektizismus und Historismus
wurde abgelöst vom Art Nouveau oder dem Jugendstil,
und es lohnt, den Anfängen dieser Kunstrichtung nachzu¬
gehen. Nach der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war
in Paris die Schönheit farbiger japanischer Holzschnitte
entdeckt worden, und auf der Londoner Weltausstellung
1862 hatten die dort erstmals in Europa gezeigten japa¬
nischen Kunstgegenstände die Welle des Japanismus aus¬
gelöst, welche die Kunst Europas für einige Jahrzehnte
beeinflußte und die besonders in England schöpferisch
verarbeitet wurde. Vor den erstaunten Augen der europä¬
ischen Künstler eröffnete sich eine ganz andersartige flä¬
chige Komposition mit asymmetrischer Gewichtsvertei¬
lung, dem Einbeziehen großer unbedeckter Flächen dicht
neben feinen ornamentalen Details.
Von Mäzenen, Kunsthändlern und Künstlergruppen, die
sich für die neue Richtung interessierten, wurden in einigen
europäischen Ländern Kunstzeitschriften gegründet, und
es war bemerkenswert, daß zur Gestaltung dieser Zeit¬
schriften erstmals Künstler, meistens Maler, herangezogen
wurden. Von Anfang an wurden der Typografie und Schrift
bemerkenswerte Aufmerksamkeitgewidmet.bedingt auch
durch die hohe Wertschätzung der Schrift in Japan und
China, denn ein ostasiatischer Spruch besagt, die Malerei
sei eine der sechs Schreibarten. Es entstanden in England
«The Century Guild Hobby Horse» (1884) und «The Studio»
(1893), in Deutschland der «Pan» (1895) und die «Jugend»
(1896), mit demselben Namen wurde in Spanien «Joven-
tud» (Jugend) herausgegeben, in Wien «Ver Sacrum», in
Rußland gründete 1891 Sergei Diaghilew die «Mir Is-
kusstwa» (Welt der Kunst), und in Frankreich widmete sich
die «Revue Blanche» diesen Bemühungen.
Anfangs war nicht abzusehen, daß aus dieser Bewegung,
die in der englisch- und französischsprechenden Welt nach
dem Pariser Kunstsalon des Kunsthändlers Siegfried
Bing «Art Nouveau», im deutschsprachigen Raum nach
der Zeitschrift «Jugend»stil benannt wurde, etwas so We¬
sentliches für die weitere Schriftentwicklung entstehen
würde. Bei Blake und Rossetti, den Vorläufern, bei
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Aubry Beardsley, Whistler, Mackmurdo und vie¬
len anderen wurden die gleitenden Linien modern ; Flam¬
menblumen, Lilien und langbehaarte Seejungfrauen tau¬
chen aus weichwogenden Wasserwellen. Es schien, als ob
viele dieser Jugendbeschwingten sich den kulturwidrigen
Auswirkungen des beginnenden Imperialismus in ein eso¬
terisches Leben voller Sentiment auf einer abgeschlossenen
Insel entziehen wollten.
Für unser Anliegen war die Arts-and-Crafts-Bewegung
wesentlich, die eng mit L'Art Nouveau zusammenhing und
die sich mit der material- und werkgerechten Form von
Möbeln, Tapeten und Gebrauchsgegenständen verschie¬
dener Art befaßte. Sie wurde mit ihrem wichtigsten Ver-
THE ARGUMENT.
UCIUSTarquinius(forhis«
sive pride surnamed buperbus
ter hee had caused his owne fa
in law ServiusTulliustobecr
murd'red, and contrarie to the
inaine lawes and customes,no
quiring or staying for the people's suffrages,
possessed himselfe of the kin gdome: went ace
Abbildung 347 Golden Type von Morn's
f)€R6cnd8 the tale of the Шоосі beyond
the Шогіа, made by ШиНлт Morris, and
printed by him at the Relmscott press,
Qpper Malt, ftammersmitb. finished the
30tb day of May, 1894.
Abbildung 348 Troy-Type von Morris
Abbildung 349 Bastarda von Johnston
Abbildung 3J0 Stempelschneider bei der Arbeit
treter William Morris (1834 bis 1896) zugleich eine Be¬
wegung für die werkgerechte Gestaltung des Buches. M о u-
ris' Pionierarbeit hatte große Bedeutung für das Schrift -
schaffen in Europa und Amerika.
Nachdem Morris erfolgreich als Maler, Dichter und
Kunstgewerbler gearbeitet hatte, gründete er 1890 in der
Londoner Vorstadt Hammersmith die Keimscott Press und
begann sein «kleines typografisches Abenteuer», wie er es
nannte. Mit der Unterstützung des erfahrenen Druckers
Emery Walker druckteer insgesamtdreiundfünfzig Werke,
die weniger durch ihre holzgeschnittenen gotisierenden
Randbordüren und Initialen oder ihre präraffaelitischcn
Illustrationen, sondern mehr durch ihre stilistische Ge¬
schlossenheit der allgemeinen Geschmacksverirrung im
Buchschaffen seiner Zeit ein neues Wollen entgegen¬
stellten.
Bemerkenswert sind auch seine von den meisten Ver¬
tretern der Art Nouveau wesentlich abweichenden sozial-
reformerischen Ansichten. Er war an der Gründung eines
Parteiblattes der englischen Sozialisten «Commonweal»
(Gemeinwohl) beteiligt. 1894 äußerte er in der Zeitung
«Justice»: «Man muß jedoch bedenken, daß die Zivilisation
den Arbeiter auf eine so karge und jämmerliche Existenz
herabgedrückt hat, daß er kaum noch den Wunsch hegen
kann nach einem Leben, welches viel besser wäre als das,
was er jetzt gezwungenermaßen erduldet. Aufgabe der
Kunst ist es, ihm das wahre Ideal eines erfüllten und ver¬
nünftigen Lebens vor Augen zu führen, eines Lebens, in
dem die Wahrnehmung und die Erzeugung von Schön¬
heit, jener eigentliche Genuß wirklicher Freude, als für den
Menschen ebenso notwendig empfunden werden wird wie
sein tägliches Brot.»33 M o r ris lehnte den Klassizismus und
33 Zapf, Hermann: William Morris. Lübeck 1949.
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