Von außen zeigt das Alte Meßviertel die Stadt in ihren
trotzigen Festungsmauern, wie sie diese, einst eine der
Hauptfestungen des Landes, noch zu Anfänge unseres
Jahrhunderts umschlossen, mit dem Wallgraben, der sich
oft vom Blute der stürmenden Feinde gerötet hat. Das
Portal, welches ins Innere führt, ist eine Nachbildung des
Haupttores in dem Trotzer der Pleißenburg, jenes mas¬
sige überbaute Bollwerk, durch welches im Laufe von
vierthalbhundert Jahren alle Beherrscher des Sachsen¬
landes, sowie die vieler anderen Länder und die meisten
Feldherren und Generäle des Dreißigjährigen Krieges
ihren Einzug in die berühmte Zitadelle hielten. Letztere
verdienen um so mehr erwähnt zu werden, weil sie bei
aller damals mit dem Soldatenhandwerk verbundenen
Raublust die kaiserlichen Schutzprivilegien für die Leip¬
ziger Messen gewissenhaft respektierten und kein Fall
bekannt ist, daß sie dahin ziehenden oder heimkehrenden
Kaufleuten Leid und Schaden an Person und Gütern zu¬
gefügt hätten, selbst solchen nicht, mit deren Landesfürsten
sie im Kriege lebten. Einen pittoresken Anblick bieten
die über die Stadtmauer wegragenden kleinen Häuser,
die lange noch, nachdem der Festungsgürtel verfallen und
auch die Stadt nur allein friedlichen Zwecken dienstbar
war, erhalten wurden, um Quartiere für geringere Rats¬
beamte und Handwerkerfamilien abzugeben. Wie mancher
alte Leipziger wird sich nodi solcher Mauerhäuschen, wie
sie in den Zwingern und an den Toren und Pforten
klebten, erinnern. Am Ufer des Wallgrabens erblickt man
ein Kreuz, sogenanntes Weichbild, wie Herzog Georg
deren im Jahre 1536 an den Hauptstraßen, die nach der
Stadt führten, vor allen vier Toren aufrichten ließ, sowohl
als Bezeichnung der Grenze des städtischen Gebiets und
der bis dahin reichenden Gerichtsbarkeit, wie auch als
Mahnung für die Fremden, für ihre glückliche Ankunft
ein Dankgebet zu verrichten oder bei ihrem Abzüge nach
der Heimat Gott um Abwendung von Gefahr und Unfall
auf der Reise zu bitten. Einen hervortretenden Teil dieses
alten Meßviertels bildet Auerbachs Hof, seit fast vier
Jahrhunderten ein Zentralpunkt des Leipziger Meßhan¬
dels, reich an geschichtlichen und gesellschaftlichen Er¬
innerungen. Dieses berühmteste Bürgerhaus der Stadt,
welches auch durch Goethes Trauerspiel Faust weltbekannt
geworden ist, hat Tscharmann in überraschender Wieder¬
gabe, soweit sich die Örtlichkeiten dazu benutzen ließen,
dargestellt. Selbst der kleine Einbau am Ausgange nadi
der Grimmaischen Straße, in welchem seit Menschen¬
gedenken das Bankgeschäft von Steinmüller seßhaft ist,
fehlt nicht. Heinrich Stromer aus Auerbach in Franken,
Dekan der medizinischen Fakultät an der Universität, Arzt
und Ratsherr, ein Freund Luthers, der hier wiederholt,
auch 1519, während der berühmten Disputation mit Eck
im Schlosse Pleißenburg sein Gast war, erbaute und ver¬
größerte diesen Gebäudekomplex in den Jahren von 1530
bis 1538, nachdem er als vormaliger Leibmedikus der
Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg und Mainz sich
nach Leipzig gewendet hatte. Vorher gehörte das Haus
seinem Schwiegervater, dem Ratsherren und vornehmen
Handelsmann Heinrich Gommelshain, aus welcher Zeit
noch ein Teil des Grundbaues mit den Kellereien erhalten
geblieben ist. Bald wurde Auerbachs Hof, namentlich für
den Handelsverkehr mit den Reichsstädten Nürnberg
Augsburg und Frankfurt am Main, sowie mit welschen,
französischen und niederländischen Kaufleuten, ein wich¬
tiger Platz. In ihm befanden sich hundert Gewölbe, viele
offene Buden und zwei Bilderhäuser nebst Stuben und
schönen Logiamentern, sowie ein Reisigenstall für die
Rosse der fremden Kaufleute. Alle alten Geschichts¬
schreiber rühmen die Menge und den Reichtum der hier
aufgespeicherten oder zum Kauf ausgelegten Waren.
Schon Taubmann, der bekannte geistreiche Wittenberger
Hofpoet und Hanswurst, schrieb vor dreihundert Jahren
begeisterte Verse über Auerbachs Hof, und viele deutsche
und lateinische Reimschmiede machten es ihm nach. Wäh¬
rend der Messen belebte ihn bis zur Mitte des vorigen
Jahrhunderts auch der glänzende Dresdener Hof und der
Landesadel. Eine Schilderung dieses vornehmen Besuchs
ist uns erhalten geblieben. Es heißt da, ,,daß die Cavaliere
und Damen sich während der Messen in Auerbachs Hofe
täglich in großer Anzahl einfänden, sich in lebhaften Dis¬
cours ergingen, aus einem Kaufladen in den anderen
liefen, sich untereinander mit Meßgeschenken erfreuten
und viele Einkäufe machten, die dann von den Domestiken
in großen Bündeln und Paketen fortgetragen würden“.
Eine ergötzliche Szene, die bei einem Meßbesuche des
Dresdener Hofes zur Zeit König Augusts des Starken
sich in Auerbachs Hof ereignete, verdient ebenfalls der
Vergessenheit entrissen zu werden. Der durch seine
derben Späße bekannte Kommandant der Festung König¬
stein, Generalmajor von Kyau, welchen der Volksmund
fälschlich als Hofnarr bezeichnet, ein alter Junggeselle,
war einst im Gefolge des Königs mit der Hofgesellschaft
nach Leipzig zur Messe gekommen und von Hofdamen,
darunter die bekannte holdselige Freundin des Königs,
Gräfin Aurora von Königsmarck, angegangen worden, bei
der Tour à la Mode in Auerbachs Hofe Meßgeschenke zu
spenden. Der General ließ es aber unter Vorgeben seiner
Armut immer nur bei Versprechungen bewenden, so daß
die lustigen Damen eine Verschwörung gegen den alten
geizigen Filz anstifteten und sich verabredeten, ihn noch
einmal um die Meßgeschenke zu mahnen und wenn er sie
nicht augenblicklich kaufte, ihm vor allen Leuten den Rode
abzupfänden. Kyau hatte inzwischen von diesem Attentat
erfahren und traf seine Maßregeln. Als die Damen ihm
auf seiner Wandlung in Auerbachs Hof begegneten und
ihr stürmisches Begehren nach Meßgeschenken abermals
unter Kyaus Armutsversicherungen, und daß dieser Mantel
sein einziges Gut sei, erfolglos blieb, verschritt man zur
Pfändung, deren Vollziehung Aurora von Königsmarck
übernommen hatte. Der General trug Reiterstiefel und
einen langen, bis an die Knöchel reichenden zugeknöpften
Mantel. Als nun die Damenhändchen Zugriffen und die
schöne Aurora, ohne Widerstand zu finden, dem General
den Mantel auszog, zeigte sich zu allgemeinem Schrecken,
daß Kyau darunter nur allein mit demjenigen leinenen
Gewände angetan war, welches jeder anständige Mensch
auf dem bloßen Leibe zu tragen pflegt. König August und
der ganze Hof waren entzückt über diesen Spaß, und die
angeführten Damen wurden tüchtig ausgelacht. Unzer¬
trennlich von Auerbachs Hof ist sein berühmter Faust¬
keller, die von poetischem Nimbus umwobene, in kühner
Wölbung überspannte Halle, wo schon vor Menschen¬
gedenken die angesehene Kaufmannschaft und die zu den
Messen kommenden Fremden ihren Schoppen zu leeren
pflegten. Hier war es, wo der berüchtigte fahrende Schüler
und Hexenmeister Johann Faust einst seine Kunststück¬
chen zeigte und mit Hilfe des Gottseibeiuns auf einem
Fasse durch die nach dem Hofe führende Pforte aus dem
Keller ritt. Goethe hat in seinem Faust die Szene un¬
sterblich gemacht. An sie anknüpfend, sind die Wände
und Decken durch Mitglieder des Leipziger Künstler-
Vereins, Kiesling, Liebing, Neuber, Wennerberg und
Wimmer mit trefflichen Malereien geschmückt, welche in
phantasiereicher Ausführung die Erinnerung an diesen
Teufelsbesuch vor Augen führen, aber bei aller gruseligen
Einwirkung nicht imstande sind, den Wert der ausge¬
zeichneten Tropfen, die eine Gesellschaft unterfränkischer
Weingutsbesitzer und Schaumweinfabrikanten, die Namen
sind an der Schmalseite des großen Tonnengewölbes zu
Nr. 18190. Nonpareille Leipziger Lateinschrift 26 (6 Punkte)
Oben mit 1 Punkt durchschossen • Geschützt
J. G. Scheiter & Giesecke, Schriftgießerei, Leipzig
Lebt wohl, ihr Lieder Actb"¡‘Sso0n
ie Lyra klang, ich sann auf neue Lieder,
Die Fei, die einst mich schmeichelnd eingewiegt
Beim guten alten Schneider, kehret wieder
Und spricht zu mir, der Sangestraum verfliegt:
,,Der Schnee des Winters bleichet deine Haare,
Such eine Freistatt für die harte Zeit;
Die Stimm’ ermattet Dir im Liederstreit,
Du sangst bei Sturmestosen zwanzig Jahre.“
Lebt wohl, ihr Lieder, unsre Zeit ist um;
Zu Wintersanfang wird der Vogel stumm.
,,Die Zeit ist aus, wo tändelnd, girrend, glühend
Dein Lied erscholl mit jugendlicher Macht,
Und ungetrübt dein Frohsinn Blitze sprühend
Erhellte rings der Zeiten düstre Nacht.
Die Sehn’ erschlaffte schon an deinem Bogen;
Wie viele deiner Freunde birgt das Grab!
Auch eine, die du liebtest, stieg hinab,
Dein Himmel ist mit Wolken überzogen.“
Lebt wohl, ihr Lieder, unsre Zeit ist um;
Zu Wintersanfang wird der Vogel stumm.
Die Großmutter Nach Viktor Hugo
|FJtfg£|roßmutter schläfst du? Deine Lippen pflegen
( ЩП Wie betend sich im Schlafe zu bewegen;
ikSJ Wie bist du heute regungslos und bleich?
Die Hände starr auf deiner Brust vereinet,
Die nicht dein Atem zu erheben scheinet,
Dem Marmorbild der Schmerzensmutter gleich.
Blick auf, erwache, rede! wie betrübest
Du, Mutter, Deine Kinder, die du liebest?
Was taten wir? Wir waren beide fromm.
Du-zürnest uns? Du hörst nicht unsre Stimmen?
Sieh her! Die Lampe flackert im Verglimmen,
Und schon das Feuer auf dem Herd verglomm.
Zeig uns, wir waren fromm, uns zu belohnen,
Das Bild der Bibel, wo die Heil’gen wohnen
Beim lieben Gott, umstrahlt von seinem Licht;
Erklär’ uns dann die göttlichen Gebote
Und sprich vom bess’ren Leben nach dem Tode.
Was ist der Tod? Du brichst das Schweigen nicht!“'
Nr. 18192. Kolonel auf Petit Leipziger Lateinschrift 26 (8 Punkte) * Geschützt
5 Erinnerungen aus dem alten Leipziger Meßviertel 5
Tour à la Mode in Auerbachs Hofe Meßgeschenke spenden.
Der General ließ es aber unter Vorgeben seiner Armut
immer nur bei Versprechungen bewenden, so daß die lusti¬
gen Damen eine Verschwörung gegen den alten geizigen
Filz anstifteten und sich verabredeten, ihn noch einmal um
die Meßgeschenke zu mahnen und wenn er sie nicht augen-
blicklich kaufte, ihm vor allen Leuten den Rode abzupfänden.
Kyau hatte inzwischen von diesem Attentat erfahren und
traf seine Maßregeln. Als die Damen ihm auf seiner
Wandelung in Auerbachs Hofe begegneten und ihr stürmi¬
sches Begehren nach Meßgeschenken abermals unter Kyaus
Armutsversicherungen, und daß dieser Mantel sein einziges
Gut sei, erfolglos blieb, verschritt man zur Pfändung, deren
Vollziehung Aurora von Königsmarck übernommen hatte.
Der General trug Reiterstiefel und einen langen, bis an die
Knöchel reichenden zugeknöpften Mantel. Als nun die
Damenhändchen Zugriffen und die schöne Aurora, ohne
Widerstand zu finden, dem General den Mantel auszog,
zeigte sich zu allgemeinem Schrecken, daß Kyau darunter
nur allein mit demjenigen leinenen Gewände angetan war,
welches jeder anständige Mensch auf dem bloßen Leibe zu
tragen pflegt. König August und der ganze Hof waren
entzückt über diesen Spaß, und die angeführten Damen
wurden tüchtig ausgelacht. Unzertrennlich von Auerbachs
Hof ist sein berühmter Faustkeller, die von poetischem Nim¬
bus umwobene, in kühner Wölbung überspannte Halle, wo
schon vor Menschengedenken die angesehene Kaufmann¬
schaft und die zu den Messen kommenden Fremden ihren
Schoppen zu leeren pflegten. Hier war es, wo der berüchtigte
fahrende Schüler und Hexenmeister Johann Faust einst
seine Kunststückchen zeigte und mit Hilfe des Gottseibeiuns
auf einem Fasse durch die nach dem Hofe führende Pforte
aus dem Keller ritt. Goethe hat in seinem Faust die Szene
unsterblich gemacht. An sie anknüpfend, sind die Wände
und Decken durch Mitglieder des Leipziger Künstler-Ver¬
eins, Kiesling, Liebing, Neuber, Wennerberg und Wimmer
Nr. 18191. Kolonel Leipziger Lateinschrift 26 (6 Punkte) * Geschützt
6 Erinnerungen aus deni alten Leipziger Meßviertel 6
mit trefflichen Malereien geschmückt, welche in phantasie¬
reicher Ausführung die Erinnerung an diesen Teufelsbesuch
vor Augen führen, aber bei aller gruseligen Einwirkung
nicht imstande sind, den Wert der ausgezeichneten Tropfen,
die eine Gesellschaft unterfränkischer Weingutsbesitzer und
Schaumweinfabrikanten (ihre Namen sind an der Schmal¬
seite des großen Tonnengewölbes zu lesen) in diesem
Zauberkeller bietet, abzuschwächen. Außer den in ihren
Spitzen hier vertretenen edelen Weinen bringt, um aller
Nachfrage gerecht zu werden, das Konsortium auch noch
Weine aus anderen deutschen Produktionsgebieten zum
Ausschank. Der Küche steht der Kellerwirt Hoftraiteur
Louis Schuster vor, der billiges Essen in reichlichen Por¬
tionen verabreicht. — Das Hasenhaus, so genannt, weil
dessen Fassade ein Doppelfries von Häsengruppen in
ihren agrarischen und sonstigen Lebensgewohnheiten zeigt,
stand einst am Ende des Salzgäßchens und dokumentierte
die eigenartigen künstlerischen Erfindungen unserer Alt¬
vordern , wie sie dieselben bisweilen als Zierden ihrer
Häuser anzubringen pflegten. Rechts vom Eingänge durch
das Trotzertor neben der „Unterkunft aller fahrenden
Sänger“ ist das, vormals auf der Universitätsstraße, dem
Gewandhause gegenüber gestandene, infolge eines Neu¬
baues verschwundene Beguinenhaus dargestellt. In diesem
originellen Gebäude mit seinem altersgrauen Fachwerke
lebten in geistlicher Gemeinschaft die zwölf Halbnonnen,
Beguinen genannt, welche dem Dominikanerkloster zuge¬
hörten und den frommen Ordensbrüdern, soweit es sich
mit den Klosterregeln vereinigen ließ, in ihrer Häuslich¬
keit zur Hand gingen. Als sie im Jahre 1540 aufgefordert
wurden, infolge der Reformation, die das Paulinerkloster
aufgehoben hatte, sich zu entscheiden, ob sie mit einem
Goldschilling als Entschädigung aus der Stadt weichen oder
das geistliche Gewand ablegen und entbunden von ihrem
Klostergelübde hier bleiben und in das freie Leben der
weltlichen Gemeinschaft zurückkehren wollten, wählten neun
J. G. Scheiter & Giesecke. Schriftgießerei, Leipzig
J 51