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Eugen Reichel: Unsere Reichshauptstadt
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befolgt, neben der Hefe hat man hier ein
recht brauchbares Backpulver zusammen¬
gesetzt. Die notwendige Lockerung und
Gärung der Backwaren läßt deshalb auch
ungegorene, sogenannte klitschige Stellen
zu einem Ballast für die Verdauung wer¬
den, und man sollte den Genuß derselben
im eigensten Interesse ebenso vermeiden,
als warmes Brot. Letzteres unterliegt auch
im Magen noch Nachgärungen, die sich
dann sehr unangenehm äußern und selbst
* zu bösen Magenkatarrhen führen können.
REICHSHAUPTSTADT
oviel auch von Lustspiel- und
Possendichtern über die vor¬
nehmen „wohltätigen Frauen“
gespottet zu werden pflegt —
aussterben will, soll und wird
diese Gattung Damen trotz¬
dem nicht, und es wird eine
:endsten Zerstreuungen für viel
und wenig beschäftigte Damen der Gesell¬
schaft bleiben, sich im Dienste der Wohl¬
tätigkeit sozusagen mit Leib und Seele und
— Toilette aufzuopfern. Denn allerdings:
die Toilette bleibt doch immer die Haupt¬
sache. Mögen auch Leib und Seele noch
so wenig wert sein: die Toilette ist unter
allen Umständen kostbar und geschmack¬
voll. — Auf dem Felde der Wissenschaft
dagegen steht es denn doch etwas anders.
Es wäre jedenfalls ein gar nicht wieder gut
zu machender Schaden, wenn die Wissen¬
schaft dahin gebracht würde, daß sie von
jungen und alten Damen betrieben werden
könnte, das heißt fachmännisch betrieben
werden könnte. Wahrscheinlich würden
dann auch hier sehr bald die Damen das
Feld beherrschen, und die Herren Gelehr¬
ten könnten sich dann nach anderer Arbeit
umsehen. Und selbst ein so weitherziger
J. Q. Scheiter & Qiesecke, Schriftgießerei, Leipzig
H
Frauenanwalt wie Gottsched wollte denn
doch nicht, daß die Frauen, dort, wo ihnen
die ganze Anlage ihrer Natur hindernd im
Wege steht, ihre Kräfte nutz- und zwecklos
vergeudeten. Nun kann allerdings gefragt
werden: warum bestehen denn Mädchen¬
gymnasien sowie weibliche Abiturienten,
wenn das alles weiter keinen Zweck haben
soll? Aber ist eine höhere Bildung der Mäd¬
chen nicht schon Selbstzweck genug? Um
gebildete Frauen ist es uns allerdings sehr
zu tun, denn das Heil einer Gesellschaft,
eines Volkes, hängt nicht zum wenigsten
von ihren gebildeten, d. h. wahrhaft gebil¬
deten Frauen ab. Um gelehrte Frauen aber
ist es uns wirklich gar nicht zu tun; und
wenn es auch zu keiner Zeit und in keinem
Kulturlande an wirklich gelehrten Frauen
gefehlt hat, so bestand ihre Gelehrsamkeit
(die ihnen fast immer schon in den Kinder¬
jahren von dem gelehrten Vater anerzogen
wurde) doch mehr, ja eigentlich nur allein
in gelehrtem Wissen, soweit sie eben be¬
fähigt waren, es sich anzueignen. Andere
als Handlangerdienste haben sie deshalb
den Wissenschaften niemals geleistet, und
zu solchem Dienst können sich die Damen
auch heute jederzeit geschickt machen, ohne
daß sie dazu des Matrikel rechts bedürfen.
Zudem ist nun einmal die Universität keine
Spielschule, in der Männlein und Fräulein
in kindlicher Unschuld beisammensitzen
dürfen. In den jungen Jahren, in denen man
sich die hohen Stufen der Wissenschaften
aneignen soll, steht das Geschlechtsleben
so reich in Blüte, daß es ohnehin schwer
ist, die jungen Leute bei der Wissenschaft
festzuhalten. Wenn sie jetzt noch durch ge¬
meinsamen Hochschulunterricht selbst in
den Hörsälen Reizen ausgesetzt werden, die
mit den Reizen der Wissenschaft gar nichts
gemein haben: so ist fast zu befürchten, daß
dadurch die Wissenschaft in einer Weise
Cicero Antiqua 22. *0ben links mit 1 Punkt durchschossen
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UNSERE
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der unterhal
Hätt’ ich mir nicht die Flamme Vorbehalten,
Ich hätte nichts Apart’s für mich.
Faust
So setzest du der ewig regen,
Der heilsam schaffenden Gewalt
Die kalte Teufelskunst entgegen,
Die sich vergebens tückisch ballt!
Was andres suche zu beginnen,
Des Chaos wunderlicher Sohn!
Mephistopheles
Wir wollen wirklich uns besinnen;
Die nächsten Male mehr davon!
Dürft ich wohl diesmal mich entfernen?
Faust
Ich sehe nicht, warum du fragst.'
Ich habe jetzt dich kennen lernen;
Besuche nun mich, wie du magst.
Hier ist das Fenster, hier die Türe,
Ein Rauchfang ist dir auch gewiß.
Mephistopheles
Gesteh’ ich’s nur! daß ich hinausspaziere,
Verbietet mir ein kleines Hindernis,
Der Drudenfuß auf eurer Schwelle.
Faust
Das Pentagramma macht dir Pein?
Ei, sage mir, du Sohn der Hölle,
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SAVONAROLAS WEIHNACHTSPREDIGT
Die Zeit des Mitleids und der Güte,
Das ist die stille kühle Nacht,
Wenn über die versengte Blüte
Mit seinem Tau der Himmel wacht.
Die Zeit des Mondes und der Sterne,
Das ist die ungestörte Zeit
Des Heimwehs nach der stillen Ferne
Aus diesem Tal voll Schmerz und Streit,
Und war dein Herz am heißen Tage
Auch mit den Brüdern wild und rauh,
So kühlt es dir zu milder Klage
Die Nacht mit ihrem Tränentau.
Dann kehrt zu seinem Heiligtume
Das sturmverschlagne Herz und glaubt;
Dann richtet die geknickte Blume
Der Liebe auf ihr müdes Haupt.
Dann drängt es dich, den Haß zu heilen,
Der kränkend deine Seele traf,
Und schnell zum Feinde hinzueilen
Und ihn zu wecken aus dem Schlaf;
Und dem Erstaunten und Gerührten
Zu sagen, daß den herben Groll
Die Tränen dieser Nacht entführten,
Und daß er auch dich lieben soll.
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In der Zeit des Mittelalters, wo die Ritter
nur dem Kriege und den Waffen zu leben
schienen, schmückten dieselben ihr Leben
auch mit der schönen Kunst des Friedens,
mit der Dichtkunst, aus; derjenige Ritter,
der vielleicht am Tage noch Roß und Reiter
über den Haufen stach, sang am Abend, mit
seinem Saitenspiel in der Hand, ein zartes
Lied. Es verhielt sich mit der Dichtkunst
im Mittelalter vielfach, ja beinahe durchweg
anders als bei uns. Wir können uns einen
Dichter und seine Wirksamkeit kaum mehr
anders denken, als daß er, an seinem Pulte
sitzend, die Verse, die ihm gesucht oder un¬
gesucht kommen, still für sich hinschreibt,
daß er sie dann drucken läßt und darauf die
ändern sie ebenso still für sich lesen; daß
aber ein Gedicht laut vorgelesen oder her¬
gesagt, daß es auch gesungen wird, kommt
nur selten und ausnahmsweise vor. Nicht
so war es im Mittelalter. Da kannte man
nur das laute, vernehmliche Lesen und Her¬
sagen, und noch öfter, noch lebendiger und
frischer von Ohr zu Ohr, von Herzen zu
Herzen gehend, ward da gesungen. Denn
da wußte man noch von dem Bücherdrucke
nichts, und einunddasselbe geschriebene,
eine Dichtung enthaltende Blatt oder Büch¬
lein mußte neben-und nacheinander Unzäh¬
ligen, die daraus lesen hörten, dienen. Da
waren die wenigsten Dichter zugleich auch
Gelehrte, und die besten waren es vielleicht
niemals. Ungelehrte aber konnten der Regel
nach nicht einmal lesen oder schreiben. Da
war eben die Dichtkunst nicht eine Sache
der Gelehrsamkeit und des Studierzimmers,
sondern des Lebens, des öffentlichsten und
allgemeinsten Lebens; sie war wie ein war¬
mer Pulsschlag, der durch das ganze Volk
hin zuckt, und von dem jegliches Glied sein
Teil empfing. So war es namentlich, seitdem
mit dem zwölften Jahrhundert, gleichzeitig
also mit der Ausbildung des Rittertums und
der Turniere, die Dichtkunst in die Pflege
der Adeligen, der Ritter, übergegangen war.
Vorher hatte sie vornehmlich in den Hän¬
den der Geistlichen gelegen und von diesen
war sie meist auch schon auf ganz gelehrte
Art, als ein einsames Geschäft der stillen
Klosterzelle, getrieben worden. Eine freiere
offenere von Lebensluft durchwehte Heimat
fand sie nun auf den Burgen der Ritter und
an den fürstlichen Höfen. Da lernten bereits
die edlen Knaben, die für den Dienst des
Schildes erzogen wurden, neben dem Spiel
und all dem ändern, was zur höheren Bil¬
dung gehörte, auch diese Kunst, und bald
erschien es dem Rittertum als der vollendete
Schmuck jedes Edlen, daß er auch Lieder
und besonders Lieder zur Verherrlichung
der Frauen, daß er Minnelieder dichtete.
Damals hat mehr als ein hoher Fürst gedich¬
tet, und selbst Kaiser und Könige haben vor
der Zuhörerschaft, die der glänzende Hof¬
halt ihnen bot, ihre Lieder gesungen. Die
Geringeren aber aus dem Adel, die unbe¬
güterten Ritter, die auch mit dem Schwerte
nur von dem Lohne lebten, den ein reicherer
Dienstherr ihnen gab, pflegten ebenso mit
ihrer Kunst der Huld und Freigebigkeit der
J. Q. Scheiter 4 GiesBcke, SchriftgieBerei, Leipzig Nonpareille breite Romanisch No. Ѳ80
T T ^ . Gedicht mit 1 Punkt durchschossen
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