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Eigentümlichkeiten der Incunaheln.
„Nicht immer das Gebrechliche der Buchstaben, das Unzusam¬
menhängende des Drucks, das Ungleiche der Linien deutet auf späteres
Alter des Drucks, sondern nur auf einen geringeren Grad der Geschick¬
lichkeit des Form- oder Schriftschneiders oder endlich des Setzers
(vgl. oben S. 31 und 32). Die ersten Mainzer Buchdrucke sind unbe¬
greifliche Meisterwerke. “
-Nicht die Form des Buchstabens, nicht das Papier und dessen
Zeichen allein sind hinlängliche Merkmale, ein unbekanntes typogra¬
phisches Monument zu beurtheilen, es mit Wahrscheinlichkeit seinem
Drucker zuzuschreiben und das Jahr seiner Ausgabe zu finden, sondern
die Allgemeinheit des Habitus, das allgemeine Wesen eines Drucks ist
es, wenn ich diesen Ausdruck der Terminologie der Naturbeschreibung
entlehnen darf, welcher auch hier die ersten und nothwendigsten
Bedingungen einer wahren Bestimmung ausmacht. Urtheilt man nach
der blossen Form der Buchstaben, so wird man einen Hist, Quentell
und Friedberg, einen Schöffer, Wensler und Peter Braem leicht
vermengen. “
Bei den ersten Mainzer Büchern tritt zu diesen Merkmalen noch
ein anderes hinzu. Die Kölner Chronik sagt: „ind was ciat eyrste boich
dat men druckte die Bybel zo latijn, ind wart gedruckt mit eynre grouer
schlifft, as is die schlifft dae men nu Mysseboicher mit druckt.“ Bei
allen Versuchen wird naturgemäss ein Uebergang vom Leichteren zum
Schwereren eintreten. Grosse Buchstaben lassen sich leichter schnitzen
als kleine und demnach werden unter den ersten gedruckten Büchern
diejenigen mit grösserer Schrift älter sein, als die Bücher mit kleinerer
Schrift. Der Kölner Chronist kannte nur eine Bibel mit grober Schrift,
wie sie zu Missalen auch später noch gebraucht wurde, seit dem Jahre
1760 kennt man aber zwei Bibeln, welche um die Priorität streiten:
eine mit 36 Zeilen und eine mit 42 Zeilen auf der Spalte einer Seite
und demzufolge mit grösserer und kleinerer Schrift, welche beide aber
den Schriftcharakter der Messbücher tragen.
Dieser Unterschied in der Zeilenzahl findet sich aber nicht blos
bei diesen beiden Bibeln, er setzt sich auch später fort. Mentels latei¬
nische Bibel hat 49 Zeilen, Schöffers Bibel von 1462 48. eine mit
Antiqualettern gedruckte Bibel, welche muthmasslich um 1467 gedruckt
Vermehrung der Zeilen und Verkleinerung der Schrift.
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wurde, hat 56 Zeilen und die Schrift wird immer kleiner, bis sie in
Frobens Bibel 1490 bei der Nonpareille anlangt. Diese Verkleinerung
der Schrift und die Vermehrung der Zeilen beruhten auf dem Streben,
die .Papierfläche möglichst auszunützen. Dieses Streben finden wir in
zwei Auflagen eines und desselben Buches, des Psalters von Schöffer,
hervortreten : die erste Auflage hat 20 Zeilen grosse Schrift, die zweite
deren 23, zugleich wurde in der zweiten Auflage manches unterdrückt,
so dass der Psalter von 175 auf 136 Blätter zusammenschmolz. Die¬
selbe Zeilenvermehrung finden wir bei den Donaten. Die Holztafel
Nr. 11 hat 20 Zeilen, ein dieser sehr ähnlicher Donat der Pariser
Nationalbibliothek hat 29 Zeilen. Der Donat, von welchem Nr. 24 eine
Probe gibt, hat 27, ein anderer mit gleicher Type 30 und ein dritter 36
Zeilen. Der Donat, dessen Copie unsere Beilage 1 enthält und dessen
Buchstaben denen der 42zeiligen Bibel nahe kommen, hat 25 Zeilen,
einer mit den Typen der42zeiligen Bibel, von welchem Nr. 35 eine Probe
gibt, hat 35 Zeilen und ebensoviel Zeilen hat ein mit Schöffers Namen
und denselben Typen gedruckter Donat.
Die Vermehrung der Zeilen ist aber nicht nur eine Folge des
Strebens, Papier zu ersparen, sie ist auch eine Folge der Concurrenz.
Wenn wir die Typen der 42zeiligen Bibel in einem von Schöffer
gedruckten Donat wiederfmden, so muss man fragen, warum druckte
Schöffer mit diesen Typen nicht auch neue Auflagen der 42zeiligen
Bibel? Gewiss nur desshalb, weil Mentel ihm 1460 mit seiner 49zeiligen
Bibel zuvorgekommen war und Schöffer, um die Bibel billiger her¬
zustellen und die Concurrenz aufzunehmen, auch kleinere Typen zu
derselben verwenden musste. Daher ist nicht anzunehmen, dass die
36zeilige Bibel jünger sei als die 42zeilige, eher ist die letztere zwei¬
bändige ein Concurrenzunternehmen gegenüber der ersten dreibändigen.
Die 36zeilige Bibel wurde zuerst 1760 durch Schelhorn bekannt,
der sie in einem Memoire Gütenberg zuschrieb. 1792 verkündete der
Pastor J. A. Steiner zu Augsburg der gelehrten Welt, dass ein Werk
„Die vier'Historien“ existiré, auf welchem sich ein gewisser Albrecht
Pfister zu Bamberg als Drucker nannte. 1794 wies ein Anonymus in
Meusels „Magazin“ nach, dass die Typen dieses Buches mit denen der
36zeiligen Bibel identisch seien. 1797 las Camus im Institut nationale
Fanlmann, Gesch. d. Buchdruckerkunst. 9