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Presspolizei in Frankreich.
200, die Veränderungen, die Sätze, die Satztheile, welche die Autoren
in der ersten, zweiten oder dritten Correctur hinzugefügt oder gestrichen
haben, bekannt geben; bis das Werk unter die Presse kommt, muss er
alles sehen, jedes Wort, jede Silbe, jeden Buchstaben, denn es könnte
sein, dass er ein Märtyrer eines Diphthongs würde. Wenn ungeachtet
der Klage des Staatsanwalts ein Gericht urtheilt, dass ein Werk nicht
tadelnswerth ist, ein anderer das Werk als strafbar erkennt, so läuft
der Richter, der sich geirrt hat, keine Gefahr, seine Stelle zu verlieren,
wohl aber der Drucker. Der Drucker muss daher ein übernatürliches
Wesen sein, er muss alles sehen, alles wissen, er soll unfehlbar sein.“
Am 25. Juli 1830 erliess der Minister Polignac das Gesetz, welches die
periodische Presse suspendirte, die Kammer auflöste, ein neues Wahl¬
gesetz einführte und die neuen Kammern auf den 28. September ein¬
berief. Am 31. Juli sprach die Kammer die Absetzung Karls X. und
die Erhebung des Herzogs von Orleans auf den Thron aus.
Die neue Regierung, eingedenk ihres Ursprungs, gewährte Press¬
freiheit. Am 8. October 1830 wurden die Pressdelicte den Geschwornen
übertragen, am 14.December die Caution beträchtlich verringertu.s. w.
Als aber die Journale die Freiheit benützten, die Regierung anzugreifen,
traten sofort Verschärfungen ein. Ein Gesetz von 1835 bestrafte die
Vergehen gegen die Sicherheit des Staates mit Geldstrafe von 10.000
bis 50.000 Francs und Gefängniss. Louis Philipp wurde 1848 abgesetzt.
Nach seinem Sturze begann die provisorische Regierung ihre
Thätigkeit damit, alle Verurtheilungen wegen Pressvergehen zu annul-
liren. zur selben Zeit verbot sie aber auch unzählige Schriften, welche
ohne Namen des Verfassers und Druckers veröffentlicht wurden,
schwere Strafen wurden- gegen die Ankleber oder Verbreiter solcher
Schriften verhängt. Am 6. März 1848 wurde das strenge Gesetz von
1835 aufgehoben und der Zeitungsstempel abgeschafft. Am 22. März
wurden die letzten Spuren der alten Gesetzgebung über die Presse
abgeschafft und die Pressvergehen den Geschwornen überwiesen.
Am 2. Mai wurde die Freiheit der Presse und die Aufhebung der
Censur in den Colonien beschlossen. Die Aufhebung des Stempels
und der Caution für politische Schriften rief eine grosse Menge von
Zeitschriften ins Leben.
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Diese Pressfreiheit dauerte nicht lange. Nach dem Juni-Aufstande
w/urden von Cavaignac 11 Journale unterdrückt; als Napoleon 111. am
10. December 1848 zum Präsidenten der Republik gewählt worden
/war, begann er mit der Unterdrückung von Journalen, es wurden dazu
die von einem Detachement Linientruppen unterstützten Bataillone
der Nationalgarde aufgeboten. Diese nahmen ihren Auftrag so ernst,
dass sie auch die Druckerei-Utensilien zerstörten, so dass sich der
Schaden der Druckerei von Boulé auf 78.065, derjenige der Druckerei
von Proux auf 40.444 Francs belief. Ein Gesetz vom 27. Juli 1849
enthielt unter anderem die schwersten Strafen gegen die Colportage.
Im Jahre 1850 wurde die Caution der Journale fixirt und die Unter¬
zeichnung des Verfassers jedes politischen, philosophischen oder
religiösen Artikels in Journalen verlangt (Wuttke, der diese Massregel'
feierte, weil sie den Schriftsteller zu besserem Styl nöthige, scheint
vergessen zu haben, dass auch Strohmänner unterzeichnen können) ;
die politischen Journale sowie die Roman-Feuilletons wurden mit dem
Stempel belegt. Von diesem Zeitpunkte an verminderte sich die Zahl
der Journale und die übrigen vertheuerten ihr Abonnement. Nachdem
Napoleon III. am 2. December 1851 auch die Republik unterdrückt
hatte, wurden die Journale genöthigt, der Obrigkeit Correcturabzüge
vorzulegen, jedes Blatt musste in der Nacht in das Censurbureau
wandern. Während der ersten Zeit wurden zur genauen Ausführung
der Ordre die Druckereien militärisch besetzt, am 30. Jänner 1852 ging
die Ueberwachung der Druckereien, des Buchhandels mit allem, was
dazu gehört, von dem Ministerium des Innern, wo sie seit 1818 gewesen
war, an das Ministerium der Polizei über. Mit dem Gesetze vom
17. Februar 1852 wurde die Herausgabe топ periodischen Schriften
von der Erlaubniss der politischen Behörden abhängig gemacht, die
Stempelpflicht wurde erweitert, die Caution erhöht, die Verhandlungen
der Pressdelicte dem Zuchtpolizeigerichte überwiesen, endlich das
Recht der Suspension der Zeitungen nach zwei Verwarnungen und
selbst die Unterdrückung der Regierung Vorbehalten.188 Nach der
Niederlage zu Sedan am 2. September 1870 stürzte der napoleonische
Thron wie ein Kartenhaus zusammen. Das Gesetz vom 29. Juli 1881
stellte die Pressfreiheit im vollsten Umfange wieder her.