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Proportion der Buchstaben.
genauer bestimmten. So ist nach Breitkopf 119 von Fra Luca Paccioli
im Jahre 1509 ein italienisches Werk: De divina proportione heraus¬
gegeben worden, in welchem dieser eine Anleitung gab, die lateinischen
Versalbuchstaben in ihrer rechten Proportion darzustellen. Ich habe
dieses Werk nicht zur Hand bekommen, aber da hier blos von Versal¬
buchstaben die Rede ist, so ist wohl kein Zweifel, dass der Verfasser
dasselbe angestrebt hat, wie Albrecht Dürer in seiner 1525 heraus¬
gegebenen „Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit“
und Geofroy Tory in seinem 1526 erschienenen Champ fleur y. In
diesenWerken, welche ich
gelesen habe, istkein Ver¬
such gemacht worden, die
Buchstaben der Bücher
in irgend welcher Weise
zu modiflciren. Albrecht
Dürer hatte nur die Ab¬
sicht , Steinmetzen und
Schildermalern eine An¬
weisung zu geben, wie sie
die lateinischen Versalien
und die Buchstaben der
gothischen Mönchsschrift
in guten Proportionen
ausführen sollten, und er
Nr. 75. Der Schriftgiesser im XVII. Jahrhundert. ging dabei ѴОП dell Foi-
(Nach De Visse.) men ¿er üblichen Schrift
aus, bei welcher er zeigte, wie sie mit dem Zirkel und dem Lineal dar¬
zustellen sei. So construirte er den Buchstaben С aus zwei sich durch¬
schneidenden Kreisen, welche oben und unten zusammenliefen und
deren Auseinandergehen in der Breite den Grundstrich ergab; die
gothischen Buchstaben setzte er aus Vierecken und Winkeln zusammen.
Alle diese Buchstaben haben die Grösse einer halben Octavseite und
offenbar handelte es sich bei dem grossen Meister nur darum, bei Her¬
stellung von Inschriften gute Proportionen zu erzielen. Eine Aenderung
der bestehenden Schrift kam ihm so wenig in den Sinn, dass er dem
Proportion der Buchstaben. Antiqua.
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Buchstaben A z.B. nicht den schönen geometrischen Winkel oben gab,
sondern die durch die Rohrfeder entstandene kleine Aushöhlung oben
(vgl. Nr. 85) gewissenhaft als Viertelkreis aufnahm. Tory druckte Dürer
einfach nach, schickte aber noch eine Abhandlung voraus, in welcher er
die Versalbuchstaben mit dem menschlichen Gesicht in eine eigenthüm-
liche Beziehung brachte. Dass der Kopf rund ist und der Figur des О
entspricht, ist gewiss kein neuer und geistreicher Gedanke, und so
erweisen sich auch alle übrigen Vergleiche als.eine nutzlose Spielerei.
Diejenigen, welche diese Bücher als die Grundlage einer neuen kalli¬
graphischen Lehre bezeichnen, können dieselben unmöglich gesehen
haben, wenn ich auch zugestehen mag, dass diese Abhandlungen
J. G. I. Breitkopf in hohem Grade interessirt und ihm Lust und Liebe
zur Buchdruckerkunst eingeflösst haben mögen.
Was nun die einzelnen Schriftarten betrifft, so sahen wir am Ende
des vorigen Jahrhunderts die römische und die gothische Schrift im
Kampfe um die Herrschaft, welcher sich zu Gunsten der gothischen
Schrift zu neigen schien. Im Anfang des XVI. Jahrhunderts erfolgte aber
eine Reaction zu Gunsten der Antiqua. In Deutschland hatte der
schwäbische Buchdrucker Auerbach eine schöne Antiqua geschnitten,
mit der er 1506 die Werke St. Augustins druckte. Diese Schrift gefiel
und bürgerte sich in Frankreich ein, wo von ihr auch die grobe Mittel
den Namen Saint Augustin bis heute erhalten hat. Die tonangebenden
Pariser Buchdrucker Jodocus Badius, Simon de Colines, Robert Etienne,
Michael Vascosan perhorrescirten die gothische Type und bevorzugten
die römische Antiqua, welche von nun an in Frankreich die herrschende
Schrift blieb, zumal der geschickte Claude Garamond ihr ein schönes
Ebenmass zu geben verstanden hatte. Wir werden seine Type später
kennen lernen. Uebrigens ist die Antiqua des XVI. Jahrhunderts wohl
jedermann bekannt, da sie unter dem Namen Mediaeval seit einigen
Jahrenvon den neueren Stempelschneidern wieder aus der Vergessenheit
hervorgeholt und „modernisirt“ worden ist. Ihr e mit dem kleinen
Köpfchen hat noch die Erinnerung an das gothische c, ebenso das
lange f, ihr magerer Charakter, ihre eckigen Versalien erinnern an eine
alte Jungfer, die, zum Skelet ausgetrocknet, der Verwesung entgangen
ist. Nur eine Geschmacksverirrung, welche sich an gesunden, runden,
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