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Schriften für Indien
Im Auftrag des National Institute of Design in Ahmedabad
sollte Adrian Frutiger die typografischen Grundlagen der
Dewanagari mit dem Ziel untersuchen, diese Schrift den
modernen Satz- und Vervielfältigungstechniken besser zu¬
gänglich zu machen. Er fuhr nach Indien und studierte erst
einmal die Voraussetzungen: verglich die vorhandenen
kalligrafischen Formen, stellte fest, welche Druckschriften
bisher geschnitten worden waren und machte sich ein Bild
von den allgemeinen kulturellen Gegebenheiten. Das ge¬
wonnene Wissen schlägt sich zunächst in einem umfangrei¬
chen Arbeitstagebuch nieder. Frutiger erzählte uns in sei¬
nem Pariser Atelier: « Die indische Schrift ist in ihrer uralten
kalligrafischen Form erstarrt und heute noch in unzählige
regionale Abwandlungen aufgespalten. Andererseits haben
die neuen Drucktechniken, die bei uns die kalligrafischen
Originalformen unserer Schriften zugeschnitten, gefeilt, ja
man könnte sogar sagen : abgewetzt haben, bis heute über¬
haupt keinen aktiven Einfluss auf die Form der indischen
Buchstaben ausgeübt. Ist es möglich, hier künstlich zu errei¬
chen, was bei uns 500 Jahre Stempelschnitt-, Matrizen¬
schlag-, Giess- und Drucktechnik aus unserem ursprüngli¬
chen Alphabet gemacht haben?« Frutiger zweifelt, ist faszi¬
niert, diskutiert mit Gelehrten der sanskritischen Literatur.
Schliesslich kristallisieren sich folgende Hauptüberlegungen
heraus:
- die indische Typograf ie braucht ein neues Gesicht - ebenso
wie Indien ein neues Strassennetz und eine mechanisierte
Landwirtschaft benötigt;
- das Sanskrit hat zum Teil dieselben Quellen wie das Grie¬
chische;
- die Kalligrafie der Rohrfeder folgt beim Sanskrit ebenso
wie bei abendländischen Schriften den gleichen funktiona¬
len und ästhetischen Regeln von An- und Abstrich, Gerader
und Rundung;
- die Leserichtung ist rechtsläufig; die Gesetze der Lesbar¬
keit bleiben dieselben; Wert und Form der Innenräume
müssen zum Schwarz der sie umgebenden Striche in einem
genau ausbalancierten Verhältnis stehen.
Beim Studium indischer Tageszeitungen stellt er fest,
dass die reinen Textspalten gesetzt, alle Auszeichnungen,
Schlagzeilen, Inserate hingegen je nach Landesteil in Dewa¬
nagari, Gujerati, Bengali usw. von Hand gezeichnet sind.
Der kleinste verwendete Schriftgrad entspricht, obwohl die
Dewanagari keine Minuskeln kennt, etwa unserem Cicero¬
grad; es wird notwendig sein, Innenformen und Akzente zu
schaffen, die auch kleine Schriftgrade erlauben.
»Unsere Studiengruppe absolviert mithin eine Lehre
auf Gegenseitigkeit: die einen entdecken eine neue Denk¬
form und dadurch sogar eine neue Schreibform, die andern
lernen sich neuer Werkzeuge und neuer Techniken bedie¬
nen. Zusammen stehen wir einer Aufgabe gegenüber, unter
steter Beobachtung der traditionellen Basis der Kalligrafie,
die uns als Gerüst, als Skelett dient, um das herum wir eine
robustere Schrift modellieren, die den derben Ansprüchen
unserer Technik entspricht und dem Ausdrucksvermögen
unserer Zeit besser angepasst ¡st.«
In enger Zusammenarbeit mit Mahendra Patel vom indi¬
schen National Institute of Design, entstehen schliesslich die
Entwürfe im Pariser Atelier. Es werden zwei Schnitte erar¬
beitet, die wir in unserer Terminologie als serifenlose
Linearschrift bzw. als Antiqua bezeichnen würden.
Martin Enzensberger
1970
Inzwischen sind 25 Jahre verstrichen. Die Schriften, die wir
damals erarbeitet hatten, kamen nie zu einer breiten Ver¬
wendung. Um so besser, möchte ich sagen. Den Entwürfen
haftete gezwungenerweise mein persönlicher Zeichnungs-
Stil an.
Mahendra Patel ist selbst Lehrer geworden. Gestützt
auf dem, was wir zusammen erarbeitet hatten, konnte er
mit seinen Schülern Schriftentwürfe mit typisch indischem
Gepräge aufbauen. Und seine Schriften sind gut geworden.
A.F.
1994
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Schriften für Indien
Die Dewanagari
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Die Schriften Indiens sind fast alle aus der Dewanagari
(Sanskrit) hervorgegangen. Nur die Urdu (Kasmiri) ist
arabischen Ursprungs.
Im Süden haben die Zeichen ein rundes Gepräge; die
Schreibtechnik ist dort vom Material, dem Palmblatt, geprägt.
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1960 stand die Druckschrift Indiens auf dem
Niveau der lateinischen Schrift des 15. Jh.
Links ein Zeitungsausschnitt in herkömmlicher Weise
gesetzt, rechts der neue Vorschlag
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Das Studium der kalligraphischen Form (oben) war notwendig zur Zeichnung der modernen Schrift (unten)