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Die Schriften von Adrian Frutiger
»Alles Gegenwärtige ist auf der Erfahrung der Vergangen¬
heit aufgebaut. Alles Zukünftige ist im Gegenwärtigen
schon vorhanden. Das heutige Werk ist in der Geschichte
menschlichen Schaffens verankert, und wenn es wertvoll ist,
bedeutet es: Baustein für die Zukunft. Der Werkmann trägt
deshalb eine doppelte Verantwortung: als Schluss-Stein der
Vergangenheit und zugleich als Grundstein für die Zukunft
den eigentlichen Weg des menschlichen Erfindern erkannt
zu haben. «
Adrian Frutiger
In einem halben Jahrtausend hat es zwei gravierende Ein¬
schnitte in der Kommunikation über das abstrakte Medium
der Schrift gegeben: um die Mitte des 15.Jahrhunderts, als
der Transport der Schrift vom Schreibmeister an den Schrift¬
setzer übergeben wurde, und um die Mitte des 20. Jahrhun¬
derts, als der Transport des Schriftbildes vom Metall an das
Licht übergeben wurde.
Adrian Frutiger wird man vielleicht einmal beneiden,
dass er ein Bindeglied an dieser Vergangenheit und Zukunft
verbindenden Nahtstelle sein konnte und parallel für den
Bleisatz und den Filmsatz arbeitete.
Die Schriften seiner Vorgänger Garamond, Baskerville
und Bodoni musste er einer kongenialen Bearbeitung
unterziehen, um sie für die Bedingungen der elektronischen
Medien verwendbar zu machen. Und zahlreiche seiner eige¬
nen Schriften sind sowohl für den Bleisatz als auch für den
Filmsatz konzipiert worden. Hier dokumentiert sich die Be¬
deutung des Eingangszitates im Selbst-Bewusstsein Fruti-
gers: Schlusstein der Vergangenheit zu sein und Grundstein
für die Zukunft.
Bei Frutiger verbindet sich die Disziplin eines mathema¬
tisch exakten Geistes mit einem untrüglichen künstlerischen
Formgefühl auf das glücklichste. Auch er ist, wie viele
Schriftkünstler in diesem Jahrhundert, freikünstlerisch tätig.
Nur nicht malend, aquarellierend oder radierend.
Seine freien Arbeiten haben die disziplinierte und kon¬
trollierbare Formensprache des Buchstabens. Sie sind das
Persönlichste seiner Formerfindungen, die Zeichensprache
seiner künstlerischen Ausdruckskraft. Sein präzises Umriss¬
gefühl dokumentiert sich zwei- und dreidimensional in Holz
und Stein, in Kunststoff und Bronze, auf Druckplatten und
Reliefs.
Der kontrollierten Freiheit, der sich Frutiger im Kunst¬
bereich hingibt, steht die zwingende anonyme Dienstleis¬
tung in seinem Schriftschaffen gegenüber. Hier wird seine
Beherrschung der Umrissformen ganz in die Notwendigkei¬
ten produktionstechnischer und prozessrechnerischer
Bedingungen gestellt. Frutiger ist sich bewusst, dass der
Dienst an der Schrift und für die Schrift eine der ältesten
und ursprünglichsten Dienstleistungen überhaupt ¡st. In sei¬
nen frühen Arbeiten ist der Bezug zum Handwerk - zum
Werk der Hände - noch ganz offensichtlich, zu den Schreib¬
werkzeugen, zu den Wiedergabematerialien. Mit der glei¬
chen Intensität hat er sich den komplexen und komplizier¬
ten Anforderungen des Filmsatzes, der Satzkomputer, der
digitalen Ablesung, den Problemen der Lichtgeschwindig¬
keit gewidmet.
Wer so arbeitet, ist nicht den Gefahren modischer Kurz¬
atmigkeit, tendenziöser Neuigkeitssucht oder emotionaler
Selbstverwirklichung unterworfen. Es gibt zeitlich und per¬
sönlich entwicklungsbedingte Ausdrucksformen in seinen
Alphabeten, aber nichts, was der Mode oder dem Effekt
unterliegt. - Nichts ist da von ungefähr geworden, sondern
es steht in dem fortwährenden Prozess der Wandlung in
Form und Material und der Wandlung durch Gebrauch und
Gewöhnung.
Frutiger denkt und plant in grossen Zusammenhängen:
eine Schrift wird als Programm in den notwendigen Aus¬
baustufen für die anvisierten Anwendungsmöglichkeiten
unter den marktgerechten und technologischen Bedingun¬
gen konzipiert. Er arbeitet mit einem wachen und fundier¬
ten schrifthistorischen Bewusstsein, das er auf gegenwärti¬
ge und zukunftsgerichtete Aufgaben der Schrift projiziert.
Der sich selbst gestellte Anspruch zielt auf höchste opti¬
sche Qualität: Bögen und Rundungen, Strichstärken und
Öffnungen haben optimale Einzelformen und fügen sich
zugleich in das Gesamtbild von Wort, Zeile und Seite ein.
Grundschriften haben ein hohes Mass an Internatio¬
nalst erreicht, sie werden weltweit im Bereich des lateini¬
schen Alphabetes verwendet. Der Fotosatz bietet hier erst¬
malig bewegliche und rationelle Möglichkeiten der Alpha¬
betherstellung, die allerdings auch Gefahren überflüssigen
Missbrauchs aufzeigen.
Frutiger war immer der Ansicht, dass nach den anfängli¬
chen Problemen und gelegentlichen Unzulänglichkeiten
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das Qualitätsniveau des bleilosen Satzes dank raffinierterer
und intelligenterer Wiedergabetechnologien den Ansprü¬
chen historischer Vergleiche gerecht werden kann. Die grös¬
seren Freiheiten gegenüber dem Blei - übergangslose Grad¬
abstufungen, freie Zurichtungen (Buchstabenabstände),
Modifikationen in Breite, Stärke, Höhe, Schräglage einer
Schrift - sind offensichtlich. Wie überall verlangt hier die
grössere Freiheit aber auch höhere Verantwortung. Manche
Regeln herkömmlicher Typografie sind neu zu überdenken
und aufgrund grösserer technologischer Möglichkeiten und
geänderter Gewohnheiten neu zu formulieren.
Frutiger sieht neue Schriften nicht unter verkaufsstrate¬
gischen Überlegungen, sondern unter den Zwängen der
Reproduktions- und Lesbarkeitsqualität. Der Fotosatz erfor¬
dert neue Proportionen und Strichstärken des Alphabetes,
die Zeichnung muss die Wiedergabe in Grund- und Head-
lineschriftgraden gleichermassen zulassen; der Lichtstrahl
stellt eigene Anforderungen an Serifen, Einstiche, Ein- und
Ausmündungen.
Kurt Weidemann
1976
Im Rückblick auf die Jahrzehnte - im gegenwärtigen Zeit¬
punkt des Allesmöglichen notwendiger denn je - hat Fruti¬
ger wichtige Masstäbe gesetzt.
Der Ausbau einer Schriftfamilie nach System, erstmalig
mit der Univers verwirklicht, hat den Ausbau nach Markter¬
folg (Futura) abgelöst. Seine Bemühungen für automatisch
lesbare Schriften haben die Hilfslosigkeit gegenüber Form¬
problemen aus der Sackgasse gewiesen (OCR-B). Seine Zei¬
chen und Symbole haben für die nachalphabetische Kom¬
munikation Qualitätsstandards gesetzt. Die Orientierungs¬
systeme für die sichere Lenkung von Publikums- und Ver¬
kehrsströmen sind weltweites Vorbild.
Sein Schriftschaffen umfasst eine überschaubare Zahl
gültiger und gültig bleibender Alphabete. Sie werden die
telefonbuchstarken Musterbücher, angefüllt mit Banalitä¬
ten und Beliebigkeiten, überleben. Wo man seinen Schrif¬
ten in der Anwendung begegnet, trifft man auch immer
wieder auf verantwortliche und gestaltungsfähige Typogra-
fen, die ihr Metier beherrschen.
Kurt Weidemann
1994