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Die Univers in derTypografie
Die Futura wurzelte im Konstruktivismus in Architektur
und Kunst der zwanziger Jahre, und mit diesen gemeinsam
demonstrierte sie für eine Überwindung des Individuellen
(in den Künstlerschriften des Buchdrucks) mittels der Kon¬
struktion. Der demonstrative Charakter und ihre enge Ver¬
flechtung mit den positiven, aber auch negativen Zeichen
ihrer Zeit haben bewirkt, die Bedeutung der Futura für
unsere Zeit in Frage zu stellen. Die Drucktype, welche das
Auge als »richtig« empfinden soll, kann nicht konstruiert
sein. Das menschliche Auge hat die Tendenz, alle waagrecht
gelagerten Werte zu vergrössern, die senkrechten Teile als
schwächer zu registrieren; im rechten oder spitzen Winkel
aufeinanderstossende Balken müssen konisch verjüngt und
verdünnt werden; dies hilft die Zudunklung einzelner Teile
vermeiden. Der geometrischen Ebene der Konstruktion ist
die Ebene der Empfindung überlagert, auf welcher im Ge¬
geneinander von Schwarz und Weiss die definitiven Ent¬
schlüsse zu fassen sind.
In der Schweiz fanden Gestalter und Drucker in der
Akzidenzgrotesk der Jahrhundertwende die Tugenden, wel¬
che der Futura mangelten: Sachlichkeit, undemonstrative
und unpersönliche Haltung, Robustheit in der Strichstärke,
grosses Bild und damit Offenhaltung der Punzen bis in die
kleinsten Grade. Diese Eigenschaften gewährleisten eine
Verwendung auf fast allen Gebieten, und die Akzidenz¬
grotesk hat ihre Brauchbarkeit bewiesen, ¡st sie doch seit
zwei Jahrzehnten die bevorzugte Grotesk des Gestalters.
Es mag in ihrer neutralen und zurückhaltenden Art
begründet sein, dass die offensichtlichen Mängel der Akzi¬
denzgrotesk nicht so deutlich in Erscheinung treten. Ihr
Mangel an Sensibilität erklärt sich aus der Zeit ihrer Entste¬
hung. In der Zeitspanne von 1850 bis 1900 entstanden Typen
banaler Art bis zu solchen schlimmster Entartung, und es ist
eigentlich erstaunlich, wie gut sich die Akzidenzgrotesk im
Vergleich zu ihren zeitgenössischen Schriften hält. Jener Zeit
mangelte die Einsicht, dass auch die Drucktype vom ge¬
schriebenen Buchstaben abzuleiten sei und dass die Gesetze
des Schreibens, obwohl verändert durch die Technik des
Stempelschnittes, sichtbar bleiben sollen. Der Fettenwechsel
in der Akzidenzgrotesk ¡st mehr oder weniger willkürlich
und nicht durch den Fettenwechsel in der Schreibfeder
bedingt. In einigen Graden und Schnitten sind die Versalien
im Verhältnis zu den Gemeinen zu gross oder zu fett, was
vor allem im deutschen Satz zu schlechten Satzbildern führt.
Mit der Univers wird eine neue Wertung der Grotesk
eingeleitet. Ihre Formen greifen weder auf alte Grotesk¬
schnitte zurück, noch haben sie den demonstrativen Zug
einer Schrift, die gegen die Vergangenheit rebelliert. Die
Univers wurde aus einem gründlichen Wissen heraus um die
Schriftformen der Vergangenheit geschaffen. In ihr ¡st die
Erkenntnis wirksam, dass Schrift ein von unseren Vorfahren
übernommenes Kulturgut ist, welches weder vernachlässigt
noch gewaltsam geändert werden darf und das unseren
Nachkommen in gutem Zustande wieder übergeben werden
soll.
Die bisherige negative Deutung der Grotesk, ihr Wesen
bestehe im Weglassen, wird durch eine positive ersetzt: Die
Formen der Grotesk zeigen das Wesentliche einer Schrift.
Keine Endstriche oder anderweitige Auszierungen lenken
das Auge von der wesentlichen Form ab, die ausserordent¬
lich empfindlich ist und kleinste formale Verstösse regi¬
striert. Anstelle eines sturen Konstruktionsprinzips waltet in
allen Buchstaben der Univers ein vielfältiges Spiel von opti¬
schen Werten. Die verhältnismässig grosse n-Höhe gibt
selbst in den kleinsten Graden das grosse Bild und trägt zu
einem ruhigen Schriftbild bei, aus dem die Versalien nicht
hervorbrechen.
Die Weite der Buchstaben regelt das Verhältnis der weis¬
sen Räume in und zwischen den Buchstaben. Die Weiss¬
menge im Buchstaben ¡st deutlich grösser als das Weiss zwi¬
schen den Buchstaben. Die Typen halten sich so gegenseitig
wie die Glieder einer Kette; die Zeile ist dicht und führt den
Blick in der Leserichtung.
Schwarzanhäufungen sind durchwegs, selbst in den
schmälsten und fettesten Schnitten, aufgelockert, was das
Zuschmieren verhindert.
Reich differenziert sind die Fetten, von denen grund¬
sätzlich drei wirksam sind : der senkrechte Balken ist der fet¬
teste, der waagrechte der dünnste, und die Fette der Diago¬
nale liegt in der Mitte. Die drei Waagrechten beim E sind
etwas dünner als der einzige Querbalken beim H. Bei klei¬
nen Punzen (B) sind alle Striche dünner als bei grossen Pun¬
zen (O). Der Balken des I ist etwas fetter, damit sich der
Buchstabe neben den andern behaupten kann.
In einem grösseren Grade ist leicht erkennbar, dass die
Buchstaben ein- und ausfliessen. Einlaufe sind an den obe¬
ren Teilen von g, m, n, p, q und u, Ausläufe in den unteren
Partien von a, b, d und u.
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Das с ist schmäler als das o, damit es durch das von rechts
einfliessende Weiss nicht breiter scheint, u und n sind nicht
von gleicher Breite, weil das beim u oben einfliessende
Weiss aktiver ¡st als das von unten einfliessende beim n.
Zum ersten Male in der Geschichte des Buchdrucks
wurde eine reich verzweigte Schriftfamilie nicht auf Grund
der ersten erfolgreichen Schnitte, sondern von Beginn an
planmässig aufgebaut. Ausgangspunkt und wichtigster
Schnitt ist der normale (Univers 55), von dem aus alle weite¬
ren entwickelt worden sind. Wichtige optische Probleme
mussten immer im Hinblick auf diese Gesamtplanung gelöst
werden.
Die Univers entzieht sich der bis heute üblichen minde¬
ren Bewertung der Grotesk und ¡st gleichgewichtiger Part¬
ner der übrigen Druckschriften.Subtilität der Form, richtiger
Fettenwechsel, Verbundenheit mit der traditionellen Schrift¬
entwicklung und Offenhaltung der Punzen in den kleinsten
Graden werden eine gute Lesbarkeit gewährleisten. Die Uni¬
vers gibt den Anlass zu einer neuen Überprüfung der von
Vorurteilen etwas verbauten Frage, ob eine Grotesk in gros¬
ser Menge (im Buche beispielsweise) mühelos gelesen wer¬
den könne.
Die Qualität der einzelnen Type bedingt eine Komposi¬
tionsart, in der sich die Schrift frei entfalten kann. Eine bana¬
le Schrift mit wenig künstlerischen Werten wird den Typo-
grafen immer wieder dazu verleiten, entweder die Schrift
nur als Grauwert einzusetzen, ihr eine dekorative Rolle
zuzuweisen, oder aber mit einer virtuosen Kompositionsart
die Schwäche der Schrift zu übertönen.
Die Typografie der Bauhauszeit in den Arbeiten von El
Lissitzky, Moholy-Nagy, Joost Schmidt, Piet Zwaart und
anderen spricht sich alleinig in der Kompositionsart aus, in
der Asymmetrie, den dynamischen Flächenbeziehungen und
in den Richtungskontrasten. Die Typen, grobe oder gesichts¬
lose Antiqua- und Groteskschnitte der Jahrhundertwende,
waren vom Elan jener Zeit nicht erfasst, und ihre Qualitäten
standen weit unter denjenigen der Komposition. Die Degra¬
dierung der Drucktypen zu Grauwerten ist nicht einmal bei
Schriften minderer Qualität gerechtfertigt. Es soll nicht be¬
stritten werden, dass jede Schrift- und Satzart ihre Grauwer¬
te besitzt, die vom guten Satzgestalter registriert und richtig
eingesetzt wird. Aber: vorgängig jeder Grauwirkung ¡st die
formal und funktionell richtige Satzart.
Die grosse Mittellänge und die vergleichsweise kleinen
Ober- und Unterlängen zeitigen nebst dem grossen Bild im
kleinen Grad ein weiteres, höchst erwünschtes Ergebnis: die
Versalien sind weder zu gross, noch zu fett und brechen
nicht aus dem Satzbild aus. Dieses Grössenverhältnis der
Versalien zu den Gemeinen gestattet den Satz in verschie¬
denen Sprachen, ohne dass sich das Satzbild entscheidend
ändert.
Noch kaum überblickbare Möglichkeiten eröffnen sich
dem Satzgestalter mit der reichen Palette der Univers. Die
21 Schnitte mit durchweg gleichen Mittel-, Ober- und Unter¬
längen und genormten Fetten gehören zur gleichen Familie
und ergeben selbst bei reicher Anwendung nie den Eindruck
zufällig zusammengetragener Werte.
Die formalen Möglichkeiten der Univers sind derart,
dass der Gestaltende nicht nach ausserhalb der Typografie
liegenden Mitteln greifen muss. Die Kombinationsmöglich¬
keiten von 21 Schnitten in je 11 Graden reichen ins Uner-
messliche und eröffnen ein Spiel der Typen untereinander
von bis anhin unbekanntem Ausmass.
Die Univers bringt ihm neue Kontrastwirkungen: der
Wechsel in den Lagen, in der Grotesk bis heute guter Kursiv¬
schnitte nur sparsam angewandt; die Kontrastwirkung zwi¬
schen breiten und schmalen Schnitten; das lineare Prinzip
der mageren Schnitte im Kontrast der Flächenwirkung der
fetten Schnitte.
Es sei nicht verschwiegen, dass dieser Reichtum der Mit¬
tel schwere Gefahren in sich schliesst. Auch in der Architek¬
tur und der Produktformung steht der Ausübende vor einer
unübersehbaren Menge neuer Materialien und Möglichkei¬
ten, die in sinnvoller und intelligenter Weise eingesetzt wer¬
den sollen.
Dem Reichtum seiner Möglichkeiten muss der gestal¬
tende Typograf mit grösserem Wissen und Verantwortungs¬
gefühl gegenüberstehen. Nur der gründlich ausgebildete
Satzgestalter mit ehrlichem Bestreben und mit überdurch¬
schnittlichem Wissen und Können wird sich diesem Reich¬
tum gewachsen zeigen.
Emil Ruder
1961