FRANZÖSISCHE BAROCKE ANTIQUA UND ITALIKA
von Louis Simoneau in Kupfer gestochenen Beispielen illustriert war. Kam zum Bei¬
spiel Geoffroy Tory bei seiner Konstruktion mit einer Teilung des Quadrates in an¬
nähernd hundert kleine Teile aus, so mußte nach Jaugeon das Quadrat zu demselben
Zweck immer und immer wieder geteilt werden, bis zu der phänomenalen Zahl von
2304 kleinen Quadrätchen als der unvermeidlichen Grundlage der Geraden, Kreis¬
linien, Parabeln und Hyperbeln der geometrischen Konstruktion jeder einzelnen Letter
der Antiqua und Italika (Abb. 97). Das war ein sicher außergewöhnlich wissen¬
schaftliches System, aber nichtsdestoweniger bedeutete es dem Schriftschneider zwei¬
fellos wenig, denn es ging einfach über die menschlichen Kräfte, beispielsweise die
kleine Fläche von etwa 3X3 mm des durchschnittlichen Versalienbildes des Cicero-
Kegels der geläufigen Buchschriftgröße in eine Vielzahl unvergleichlich kleinerer
Felder zu teilen. Darum war wahrscheinlich Philippe Grandjean de Fouchy - der mit dem
Schnitt der Stempel nach den Weisungen der Académie des Sciences beauftragte
Schriftschneider der Imprimerie Royale - gezwungen, sich mehr aufsein Gefühl und
seine handwerkliche Erfahrung zu verlassen als auf die komplizierte Geometrie. Es
scheint, daß er auch so den Erwartungen entsprach, wenngleich das wohl nicht ohne
viele Korrekturen geschah, denn erst im Jahre 1702 war eine ausreichend große Gar¬
nitur fertig, um mit der neuen Schrift, die man Romain du Roi Louis XIV. nannte, das
erste Buch drucken zu können, die Médailles sur les principeaux événements du règne
de Louis le Grand. Es war dies ein außergewöhnlich luxuriöses Werk großen Formats,
in dem jede Seite, stets von einem anderen reich dekorierten und typisch barocken
Rahmen umgeben, die nicht weniger barocken Illustrationen der Vorder- und Rück¬
seiten der einzelnen Medaillen und den zugehörigen historischen Kommentar ent¬
hielt (Taf. XXXII). Die vollkommene Einheit, zu der Grandjeans Schrift der Kom¬
mentare mit den übrigen barocken Bestandteilen der graphischen Ausstattung der
Buchseiten verschmilzt, ist das beste Zeugnis für ihren Barockcharakter, und nur schwer
kann man sich an ihrer Stelle eine Schrift von älterem, von Renaissanceschnitt vor¬
stellen, obwohl sich die Antiqua und Italika Romain du Roi von der Schrift dieser
Art auf den ersten Blick nicht wesentlich unterscheidet (Abb. 99). Sie hat noch ein
recht breites Bild und die Modellierung ist immer noch nicht so schroff, obwohl die
Schattenachse konsequent senkrecht steht und die Zeichnung etwas kontrastreicher
ist. Die wichtigste Neuerung sind flache Serifen mit kaum deutlicher Kehlung nicht
nur bei den Versahen, sondern auch beim kleinen Alphabet. Besonderer Beachtung
wert sind flache horizontale zweiseitige Serifen am Scheitel der Schäfte beim b, d, h, i,
j, к und /. Neu ist auch die flache Serife am Schaftfuß der Buchstaben b und u. Eine
charakteristische, für die Bestimmung von Grandjeans Schrift besonders wichtige Let¬
ter des kleinen Alphabets ist außerdem das / mit einem kurzen horizontalen Dorn, der
in Schulterhöhe der kleinen Buchstaben links aus dem Schaft ragt, ein bemerkens¬
werter Archaismus als Reminiszenz der altfranzösischen Schreibkunst. Unter den Ver¬
salien, die den Oberlängen der Minuskeln angeglichen sind, ist der Buchstabe J be¬
achtenswert, dessen Bogen nicht mehr wie bisher unter die Grundlinie reicht, und die
neue, für das 18. Jahrhundert typische Form des gebogenen Schrägfußes bei der Letter
R. Sonst hat sich am Bild beider Alphabete der Antiqua nur wenig geändert, die
äußeren Schäfte des Versals M zum Beispiel sind immer noch gespreizt, aber manch¬
mal, wie bei den Buchstaben a und g, stellt die Zeichnung der Romain du Roi gegen¬
über der Antiqua Garamonds keinen Fortschritt dar.
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