BAROCKE ANTIQUA UND ITALIKA
linken unteren und rechten oberen Teil des Schriftbildes gelagert war. Das bedeutet,
daß der Schatten des Satzspiegels mehr oder weniger schräg in der Diagonale von
links nach rechts unten wies, und keineswegs vertikal, wie das in der Regel geschah,
wenn die Schattenachse der klassizistischen Schriften mechanisch aufgerichtet wurde,
was nicht nur das graphische Aussehen des Satzspiegels fühlbar beeinflußte, sondern
auch die Tendenz der Schriftschneider zu einer stärkeren Verdichtung des Schrift¬
bildes unterstützte.
Diese Merkmale der Endphase in der Entwicklung der Antiqua machten sich aller¬
dings nicht plötzlich in einer einzigen Schrift bemerkbar und waren auch nicht alle im
Barock völlig neu. Einige davon, zum Beispiel die flachen horizontalen Serifen, kamen
schon in den handschriftlichen Varianten der Kalligraphen der Renaissance vor, z. B.
bei Tagliente (littera antiqua tonda) oder Fanti in der ersten Hälfte des 16. Jahr¬
hunderts. Andere dieser Merkmale, vor allem die vertikale Schattenachse, wurden
sehr bald von der barocken Inschriften-Majuskel übernommen, die sich während ihrer
ganzen Entwicklung in der Hauptsache nur durch dieses Detail von der Inschriften-
Majuskel der Renaissance unterscheidet. Bei dieser Gelegenheit wird es vielleicht
nützlich sein, hier als hinreichendes Beispiel der barocken Inschriften-Schriftkunst
jenes besonders typische Alphabet anführen, das Gottlieb Siegmund Münch (Königl.
Pol.- und Churfürstl. Sachs. Ober.-Bau-Amts Secretario) in sein 1744 in Dresden
herausgegebenes Handbuch Ordnung der Schrift aufnahm (Abb. 98). Es handelt
sich nicht nur um eine anschauliche Probe der in ganz Europa geläufigen Inschriften-
Majuskel der Barockzeit - mit senkrechter Schattenachse, aber mit den traditionellen
klassischen renaissancehaft gekehlten Serifen -, sondern auch um ein weiteres Beispiel
einer geometrischen und sehr einfachen Konstruktion einer Monumental-Majuskel
im Quadrat, also eines Verfahrens, das seine Gültigkeit von der Renaissance bis zum
18. Jahrhundert behielt. Münchs konstruiertes Alphabet der Inschriften-Majuskel
hatte aber auch im deutschen Barock Vorläufer in zwei ähnlich gelösten Alphabeten,
die Michael Baurenfeind in sein Nürnberger Handbuch Vollkommene Wiederher¬
stellung etc. von 1716 einreihte. Keine seiner Schriften kann jedoch als besonders
vollendet gelten und eines seiner Alphabete ist sogar eine schlechte Kopie der In¬
schriften-Majuskel der Renaissance mit schräger Schattenachse.
Bei der Druckschrift vollzieht sich der Übergang zum neuen Stil erst am äußersten
Ende des 17. Jahrhunderts, als zur Ehre oder auf Wunsch des französischen Königs
Ludwig XIV. die Forderung nach einem neuen Schnitt der Antiqua erhoben wurde,
damit sich die Drucke der offiziellen Imprimerie Royale auch in der Schrift von der
üblichen Produktion der privaten französischen Drucker unterschieden. Die mächtigen
Protektoren der königlichen Druckerei im Pariser Louvre trugen es mit Unbehagen,
daß ihr gesamtes Schriftmaterial seit der Gründung durch Kardinal Richelieu im
Jahre 1640 immer nur aus den üblichen, jedem und überall in Europa zugänglichen
Schriften des französischen Renaissancetypus im Schnitt der Garamond, Le Bé, Gran¬
jon und Jannon bestand. Darum wurde die Académie des Sciences beauftragt, den
Entwurf einer Schrift auszuarbeiten, die der Zeit und des Namens des 'Allerchristlich-
sten Königs' würdig wäre. Im Jahre 1692 trat darum in der Akademie eine Kommission
von Fachleuten zusammen, deren Vorsitzender, Abbé Nicolas Jaugeon, ein Jahr später
eine umfangreiche Mitteilung mit einer außerordentlich gründlichen, mathematisch
belegten Theorie der Konstruktion einer vollendeten Buchschrift herausgab, die mit
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