TEIL V. DIE LATEINSCHRIFT DES BAROCKS
UND DES KLASSIZISMUS
KAPITEL I. DIE BAROCKE ANTIQUA UND ITALIKA DES
ÜBERGANGSTYPUS
WIR HABEN SCHON früher erkannt - zum Beispiel bei den Schriften des gotischen
Typus -, daß wir die Schriftentwicklung nur sehr beiläufig in die Stilperioden der
Kunstgeschichte eingliedern können, und diese Stildifferenz ist bei den Schriften des
Barocks noch deutlicher. Es ist hier bereits festgestellt worden, daß die traditionellen
Renaissanceschriftformen in den Inschriften, Urkunden und vor allem im Schrift¬
material und in der Produktion der europäischen Drucker weit in die barocke Stil¬
epoche hinein Bestand hatten, ohne daß diese sich merklich auf sie ausgewirkt hätte.
Das läßt darauf schließen, daß unser den eigentlichen Barockformen gewidmeter Ab¬
schnitt offenbar nicht sehr umfangreich sein wird. Tatsächlich treffen wir einen radi¬
kalen Barockcharakter, wie wir ihn aus der Kunstgeschichte kennen und wie er auch
in der Buchausstattung zur Geltung kommt, eigentlich nicht einmal bei den wenigen
im Barock entstandenen und für dieses typischen Schriften an, die formal für die
weitere Entwicklung der Antiqua und Italika wichtig sind. Denn die Schriften des
Renaissancetypus beherrschten noch im ganzen 17. Jahrhundert nicht nur den Buch¬
druck, sondern auch die Inschriften, und nur in einigen ornamentalen Schriften und
in Kupferstichproben der Kalligraphenkunst begann sich der barocke Geist etwas
früher durchzusetzen. Da wir diesen handschriftlichen Formen ein besonderes Kapitel
einräumen und man über die barocken Repliken der Renaissance-Inschriftenmajuskel
im Hinblick auf die Entwicklung der Schrift kaum mehr sagen kann, als daß sie im
wesentlichen nicht von der Tradition des 16. Jahrhunderts abwichen, wenden wir uns
zunächst der Frage der formalen Veränderungen der traditionellen Buchschriften zu.
Die Entwicklung der Antiqua von der Schrift Sweynheims und Pannartz' aus dem
Jahre 1467 - der ersten Schrift dieser Art - bis zur Antiqua des französischen Renais¬
sancetypus und ihren weiteren Modifikationen kann man als ununterbrochene Ent¬
fernung von den Schreibprinzipien der Inkunabelzeit in Übereinstimmung mit dem
technischen Fortschritt des Schriftgusses und eigentlichen Druckes charakterisieren.
Zunächst stand der wachsenden Virtuosität der Schriftschneider kein anderes Hin¬
dernis im Wege als die Kraft der Tradition, die eine allzu schnelle und gründliche
Verwirklichung der fast unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Technik in der Buch¬
produktion verhinderten. Gemessen an der Entfernung vom handschriftlichen Proto¬
typ kann man also in der ganzen Geschichte der Antiqua von der zweiten Hälfte des
15. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigentlich nur zwei entscheidende Phasen
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BAROCKE ANTIQUA UND ITALIKA
festsetzen, nämlich die des Anfangs und des Endes ihrer Entwicklung. Dies ist auch
meist der Fall, wie zum Beispiel in der englischen Fachliteratur, die die Antiqua in
zwei Formen teilt : old face, die Antiquaschriften des Renaissancetypus, und modern, die
klassizistischen Antiquaschriften des 18. und 19. Jahrhunderts. In Deutschland wie im
übrigen Mitteleuropa werden - wie wir aber bereits wissen terminologisch völlig un¬
richtig - nur 'Mediäval' - und 'Antiqua'-Schriften unterschieden. Zwischen diesen
beiden Polen gibt es jedoch Antiqua- oder Italikaschriften, die man weder in die erste,
noch in die zweite dieser Gruppen einordnen kann. Diese Schriften an der Grenze
zweier Stile werden manchmal als Übergangsschriften, transitional, charakterisiert, also
mit einem etwas unbestimmten Terminus. Da eine bessere Bezeichnung noch fehlt,
müssen auch wir uns vorläufig mit den chronologisch zwar genaueren, aber keines¬
wegs völlig entsprechenden Namen BAROCKE ANTIQUA UND ITALIKA DES
ÜBERGANGTYPUS begnügen, für solche Schriften, die nicht nur im Barock, son¬
dern in einigen Fällen auch nach seinem Ende als Universalstil des westeuropäischen
Kulturgebiets entstanden. In bezug auf den Stil würde es sich gehören, die Bezeich¬
nung für die ersten dieser Schriften noch näher abzugrenzen, denn mit ihrer Ent¬
stehung und formalen Verwandtschaft fallen sie in die erste Periode - die noch barocke
Welle des Klassizismus der Zeit Ludwigs XIV., als die klassischen Ideale der Renais¬
sance in Rom wiederbelebt wurden, um das Fortschreiten des radikalen Flügels der
Barockkultur auch in Frankreich zu unterbrechen. Und gerade jene klassizistischen
Elemente der Barockformen der Schrift sind die Ursache dafür, daß der Übergang vom
Rokoko zum Neoklassizismus am Ende des 18. Jahrhunderts bei der Schrift nicht so
plötzlich ist wie in der bildenden Kunst. Bevor wir aber zur eigentlichen Analyse der
barocken oder barock-klassizistischen Antiqua und Italika des Übergangstypus fort¬
schreiten, müssen wir noch die Frage beantworten, worin der Übergangscharakter
dieses Typus eigentlich besteht ; wir müssen uns wenigstens an der Antiqua klarmachen,
welches der Unterschied in der Schriftzeichnung beider Entwicklungspole ist, und
damit ihrer Geschichte um etwa ein Jahrhundert vorgreifen.
Der ganze Unterschied zwischen der Schriftzeichnung der Antiqua des Renaissance¬
typus und der klassizistischen Antiqua, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhun¬
dert die ganze Entwicklung der Schrift dieser Klasse vorläufig abschloß, beruht auf
drei konstruktiv recht geringen, aber doch außerordentlich bedeutungsvollen Details.
Zunächst ist es die abweichende Form der Serifen, die im Renaissancetypus bei den
Versalien entweder stumpf oder eingebogen, immer mit einer Kehlung zum Schaft ver¬
sehen und an den Scheiteln der kurzen und langen Minuskelschäfte immer dreieckig
waren. Diese in den handschriftlichen Vorläufern der Antiqua entstandenen Formen
verwandelten sich am anderen Ende der Entwicklungslinie in bloße horizontale Haar¬
striche ohne Kehlung. Das zweite Unterscheidungsmerkmal ist die Art der Model¬
lierung des Schriftbildes, die in der Renaissance immer gemäßigt und allmählich war
und sich bei den klassizistischen Formen in einen scharfen Kontrast zwischen den
fetten und feinen Strichen verwandelt. Der dritte, für die Bestimmung des Typus der
Antiqua besonders entscheidende Umstand ist die Lage der Schattenachse, die bei den
Renaissanceschriften - wie sich aus der natürlichen Federhaltung ergab - immer
handschriftlich zur horizontalen Grundlinie geneigt war, so daß der stärkste Schatten
zum Beispiel bei den Buchstaben с und e nicht in der Mitte des Bogens lag, sondern
immer unter seiner Mitte, und beim 0 stets asymmetrisch in der Diagonale, d. h. im
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