ORNAMENTALSCHRIFTEN DER RENAISSANCE
Falle übrigens ein naturgetreues Blatt emporwächst und aus denen Palatino, der sie
in seinem Büchlein aus dem Jahre 1540 unter der Bezeichnung cifre quadrate anführt,
allmählich und auf interessante Weise das Monogramm des Namens Lavinia zusam¬
mensetzt. Solche spielerische Monogramme führen auch andere italienische Kalli¬
graphen vor, wie zum Beispiel Vespasiano in seinem Sammelwerk von 1554 (Abb. 89).
Um vieles rustikaler ist aber ein weiteres ornamentales Alphabet Vespasianos aus dem
Jahre 1554 (Abb. 92); es besteht aus Renaissance-Majuskeln, deren Zeichnung sich
aus grob beschnittenen und manchmal verflochtenen Zweigen und Aststümpfen zu¬
sammensetzt, die sehr plastisch modelliert sind und die Grundform nicht so ängstlich
beibehalten. Von ähnlicher Art und Renaissance-Herkunft ist auch das ornamentale
Alphabet in der Sammlung des D. Sallustio Piobbicis aus dem Jahre 1664; es stammt
ebenso unzweifelhaft aus einem älteren kalligraphischen Werk, vielleicht abermals aus
Conrettos Handbuch Un novo et facil modo d'imparar' a scrivere, wofür das Format
der Holzschnittstöcke dieses Alphabets spricht, ebenso wie die von Conretto signierten
Proben anderer Schriften aus Piobbicis Sammelwerk. Ähnlich ließe sich hier und da
noch eine ganze Reihe anders gelöster ornamentaler Varianten der Renaissance-
Majuskel finden. Es ist interessant, daß die Beispiele der Versuche einer Ornamentie¬
rung der Renaissance-Minuskel dagegen verschwindend gering sind, und soweit wir
ihnen begegnen, können wir sie gewöhnlich nicht als besonders glücklich bezeichnen.
Besonders groteske Proben dieser Art enthält Libellus valde doctus etc., eine kalli¬
graphische Sammlung, die Urban Wyss 1549 in Zürich herausgab. So ist zum Beispiel
seine Schrift, die wir genauer als Halbskelett-Antiqua charakterisieren könnten, wenn
wir hier auch zur Terminologie unserer Klassifizierung der Akzidenzschriften des 19.
Jahrhunderts greifen (Abb. 93), zur Hälfte eine sehr fette und sehr frei konzipierte
Antiqua venezianischen Schnitts, deren Schriftbild in der unteren Hälfte mit dem
mageren Strich der blanken Konstruktion und dem Duplikat der Serifen der oberen
Hälfte zu Ende geführt ist. In einer anderen Probe seiner bereits halbkursiven Schrift
mit gotischen Resten in der Zeichnung der Majuskel E und der Minuskel d (Abb. 94)
wird ein weniger geläufiges Prinzip ornamentaler Gestaltung der Grundform ange¬
wandt: die bloße Unterbrechung der senkrechten Züge und ihre neuerliche Verbin¬
dung durch in gleicher Richtung nach links gekrümmte kleine Bögen, also ein Ver¬
fahren, das bei ornamentalen Schriften des gotischen Typus auch von manchen ita¬
lienischen Kalligraphen verwendet wurde, zum Beispiel von Vespasiano.
Die lettera cancellaresca wirkte, vor allem mit ihren Majuskeln, schon von sich
aus recht dekorativ, ebenso wie der größte Teil der übrigen Kursivschriften der Re¬
naissance. Man brauchte nur wenig hinzuzufügen, wie dies zum Beispiel der 'maistre
de la plume' P. Hamon im Titelblatt seines Sammelwerkes von 1561 tat, um einer
Textseite den überwiegenden Eindruck eines selbstzweckhaften, die ganze Fläche aus¬
füllenden Ornaments zu verleihen. Doch es gibt auch eine wirkliche Renaissance-Orna¬
mentalkursiv, wie sie in ihrer einfachsten Form etwa von jener kursiven Kontur-Majuskel
repräsentiert wird, die zusammen mit der Kontur-Antiqua und Textur im Titelblatt
einer anderen, um 1550 von Jacques de la Rue in Paris herausgegebenen französischen
kalligraphischen Sammlung erscheint (Abb. 96). Aus annähernd gleicher Zeit haben
wir aber ein schönes Beispiel einer kursiven Renaissance-Ornamentalmajuskel, deren
Alphabet Giovanni Francesco Cresci den ganzen zweiten Teil seiner 1571 in Rom
herausgegebenen Sammlung II perfetto scrittore widmete (Taf. XXVIII). Die orna-
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