ORNAMENTAL RENAISSANCE-MAJUSKEL
der Renaissance-Majuskel weiter voran. Wenngleich die so orientierte Schriftkunst
in ihren Sammelwerken aus dem 16. Jahrhundert nicht ganz so zahlreich vertreten
ist, wie das zu erwarten wäre, lassen sich daraus doch graphisch außerordentlich in¬
teressante und ornamental sehr komplizierte Beispiele auswählen, unter denen viel¬
leicht das lehrreichste ein Alphabet ist, das der hier schon zitierte Frate Vespasiano
Amphiareo in seine Opera aus dem Jahre 1554 einbezog (Abb. 90). Es ist sicher ein
schöner Beweis dafür, bis wohin in einigen - wenn auch vereinzelten - Fällen die
Schriftkunst der Renaissance mit der ornamentalen Behandlung der Schriftzeichnung
in ihrem fast völligen Zerfall und der neuen Zusammensetzung aus ornamentalen, in
diesem Falle von pflanzlichen Elementen inspirierten zeichnerischen Formen gelangte.
Es ist dies eigentlich ein dem Geist der Renaissance völlig entgegengesetztes Verfahren,
typisch erst für die folgende Stilepoche, und so ist Vespasianos ornamentale Majuskel -
an und für sich eine sehr reizvolle Schrift aus der Zeit vor der Mitte des 16. Jahrhun¬
derts - zugleich ein sehr frühes Beispiel, mit dem die Entwicklung der ornamentalen
Schriftkunst des Barocks angekündigt wird. Ebenso inspiriert ist auch die Ornamen¬
tierung der Majuskel unseres nächsten Beispiels aus der Renaissancezeit (Abb. 91),
das aber gleichermaßen schon als Beispiel des Bemühens gelten kann, mit einer solchen
Schrift den Eindruck von Plastizität hervorzurufen. Das wird hier durch die schraf¬
fierte Schattierung des eigentlichen Schriftbildes erreicht, das sich nicht nur aus Pflan¬
zen-, sondern auch aus Figurenelementen zusammensetzt. Interessant ist auch die
ornamentale Behandlung der zu Voluten gebogenen Serifen, die manchmal sogar noch
gegabelt sind, wie beispielsweise am Fuß des rechten Schenkels des A. Einem voll¬
ständigen Ensemble des Alphabets dieser Schrift begegnen wir auch in der 1664 von
D. Salustio Piobbici in Venedig herausgegebenen Sammlung L'Arte Compendiata
del bene et leggiadramente scrivere etc. Obwohl so spät publiziert, gehört dieses Al¬
phabet doch unzweifelhaft der Renaissance an, da es sich um einen neuen Abdruck
eines alten Holzschnitt-Druckstocks des 16. Jahrhunderts handelt, der zweifellos wie
der Großteil der Abbildungen in Piobbicis Schriftmusterbuch aus der venezianischen
Sammlung des Conretto del Monte Regale, Un novo et facil modo d'imparar' a scri¬
vere varie sorti di lettere aus dem Jahre 1576 stammt. Die auf solche Weise verwendeten
alten Druckstöcke aus anderen kalligraphischen Sammlungen wurden, um auf den
kleinen Seiten dieses Büchleins Platz zu finden, sogar schonungslos in zwei Hälften
zerschnitten. Die Zugehörigkeit der angeführten Ornamentalmajuskel zur Renais¬
sance wird übrigens außerdem durch die Tatsache bestätigt, daß sie auch in den
Initialen der venezianischen Drucker der Zeit um die Mitte des 16. Jahrhunderts
vorkommt.
Die plastische Majuskel pflegt in den kalligraphischen Handbüchern der Renais¬
sance einerseits in den üblichen nichtdekorierten und dekorierten schattierten Umri߬
formen vorzukommen, andererseits in den kuriosen Formen, die wir am besten durch
eine aus der Klassifizierung der Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts entliehene
Bezeichnung charakterisieren können, nämlich rustikale Renaissance-Majuskel. Es ist in¬
teressant, daß auch in der Renaissance der rustikale Eindruck der Schriftzeichnung
mit den gleichen Mitteln erreicht wurde wie im 19. Jahrhundert und davor im Barock,
nämlich mit einer Komposition aus plastisch modellierten und mehr oder weniger
beschnittenen Zweigen. Zu den Schriften dieser Art kann man schon die scharf ge¬
zeichneten, aber ziemlich grob modellierten Buchstaben zählen, aus denen in einem
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