ORNAMENTAL RENAISSANCE-MAJUSKEL
die kuriose Schrift von Le Rouge ist aber das N mit den fetten Schäften und der
gebogenen Diagonale besonders charakteristisch, ebenso wie die breite untere Serife
an der Spitze des V, die jener am Scheitel des A ähnelt. In der Grundform ist dies also
eine stilmäßig ziemlich gemischt anmutende Schrift, und es wäre vielleicht nicht nötig,
sich bei dieser Gelegenheit besonders mit ihr zu beschäftigen, wenn sie nicht gerade
durch die Art ihrer dekorativen Behandlung interessant wäre. Wir begegnen hier
nämhch nach langer Zeit wieder dem sehr alten Prinzip der gespaltenen Serifen, die
bereits Filocalus in seiner Ornamental-Majuskel der Damasus-Inschriften aus dem
4. Jahrhundert zu einer unübertroffenen Vollkommenheit führte. In Le Rouges Schrift
wird dieses Prinzip aber doch noch übertroffen, und zwar durch die horizontale Ga¬
belung der Serifen der Buchstaben A und I, ähnlich wie bei den Versalien Césars und
Stolls, und die Ergänzung mit weiteren dekorativen Elementen, nämlich mit in der
Mitte der Schäfte aufgehängten Punkten, oder mit Unterbrechung der Schäfte in der
Mitte, ebenso wie mit einem gebogenen Querbalken und rankenartigen Gebilden, die
aus einigen Serifengabeln hervorwachsen. Ähnliche ornamentale Lösungen finden wir
zu dieser Zeit manchmal auch bei Holzschnitt-Initialen vor, wie z. B. in Schöffers
Mainzer Druck von 1520 (Abb. 60), wo die negative Zeichnung des N beinahe die
gleiche ist wie in Le Rouges Alphabet. Einzig und allein bei ähnlichen Initialen finden
wir sodann im Buchdruck des 16. Jahrhunderts weitere Beispiele ornamentaler Va¬
rianten der Renaissance-Majuskel.
Wenn wir es uns in dieser Übersicht zum Grundsatz machen, nicht nach der Chro¬
nologie, sondern nach dem Charakter der ornamentalen Behandlung der Grund¬
formen und dabei von einfacheren zu komplizierteren Beispielen fortzuschreiten, muß
hier an erster Stelle die Renaissance-Umrißmajuskel angeführt werden, bei der eine deko¬
rative Wirkung durch bloßes Umstechen der Konturen der Grundform erzielt wurde,
wie es zum Beispiel Geoffroy Tory in seinen berühmten Stundenbüchlein in den
zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts tat (Abb. 86). Die schönen lichten Versalien
in diesen Drucken verdienen besondere Aufmerksamkeit als vereinzelte Beispiele der
Verwendung freier und so gezeichneter Buchstaben im Renaissance-Buchdruck. Im
übrigen wurden solche Initialen entweder durch freie Ornamente ergänzt, wie zum
Beispiel im Poliphil des Aldus Manutius von 1499, oder in gewöhnlich quadratische
Rahmen plaziert, die ebenfalls mit gezeichneten Ornamenten ausgefüllt waren. Auch
Geoffroy Tory schuf Initialen dieser Art, und wir konnten die schönen Kontur-
Majuskeln mit dem dekorativ ausgefüllten Hintergrund der hier reproduzierten Ini¬
tialen bereits in den Druckproben seines Champfleury aus dem Jahre 1529 (Abb. 58)
und in Bochetels Büchlein Le sacre de la Royne von 1531 (Abb. 73) bewundern. Wenn
diese Initialen besonders bedeutende Beispiele einer linearen lichten positiven Ge¬
samtzeichnung sind, so stellen sie gleichzeitig sehr seltene Beispiele dar, denn weitaus
häufiger steht die lichte Renaissance-Majuskel in der negativen Zeichnung des orna¬
mentalen Hintergrundes. In dieser Beziehung zeichnet sich Geoffroy Tory durch eine
vollständige Reihe von Initialen aus, die nicht nur in seinen eigenen Drucken, sondern
auch in den Büchern der Drucker Robert Estienne und Simon de Colines erscheinen
(Abb. 74). Aus diesen Umständen könnte man schließen, daß diese Initialen Torys
vielleicht durch Schriftguß vervielfältigt wurden, was jedoch in der Geschichte des
Buchdrucks der erste Fall dieser Art wäre. Die Torysche Art einer ornamentalen, von
Pflanzenelementen inspirierten Zeichnung auf dem mit kleinen Punkten bedeckten
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