KAPITEL IV. DIE ORNAMENTALSCHRIFTEN DER RENAISSANCE
DIE RENAISSANCE zeichnet sich als Stilepoche im Vergleich zur vorangegangenen
Gotik und dem auf sie folgenden Barock durch eine verhältnismäßig nüchterne Ver¬
wendung ornamentaler Mittel und andererseits durch die Betonung reiner Grund¬
formen aus. Ähnlich verhält sich das auch in der bildenden Kunst der Renaissance,
die sich wieder der Schönheit des von faltenreichen Gewändern nicht verhüllten
menschlichen Körpers bewußt wurde, und analog entdeckte auch die Schriftkunst
der Renaissance die konstruktive Schönheit antiker und karolingischer Grundformen
der Schrift wieder. Von den Bemühungen um die Erreichung dieses Ideals waren die
Renaissancekünstler so in Anspruch genommen, daß es ihnen vorher anscheinend
überhaupt nicht in den Sinn kam, Schriften ornamental zu behandeln, die sie in der
bloßen Grundform mit Recht so bewunderten. Deshalb wohl sind vor dem Ende des
15. Jahrhunderts ornamentale Schriften des Renaissancetypus auch in humanistischen
Manuskripten so selten; wir begegnen darin aber sehr häufig bei den Initialen einer
schriftkünstlerischen und illuminatorischen Ornamentik romanischer und manchmal
auch gotischer Prägung. Nicht anders war dies im frühen Buchdruck, insbesondere
bei in Gotico-Antiqua gesetzten Büchern, wobei diese übrigens nicht selten von einem
großen Alphabet gotischer Majuskeln ergänzt wurde.
Im 16. Jahrhundert ist die ornamentale Behandlung der Schriften des Renaissance¬
typus viel weniger selten, obwohl auch die italienischen Kalligraphen der ersten Hälfte
dieses Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen, wenn sie ihre dekorative Phantasie mit
ornamental komplizierten Proben ihres Könnens nachweisen wollten, zu diesem Zweck
als Ausgangspunkt für ihr Schaffen lieber die Grundzeichnung älterer oder jüngerer
Formen der gotischen Majuskel verwendeten. Ebenso beschränkte sich ihr gesamtes
dekoratives Interesse im Bereich der Schriften des Renaissancetypus mit ganz wenigen
Ausnahmen auf ornamentale Variationen der Renaissance-Majuskel.
In der eigentlichen Renaissanceperiode zeigte sich im Buchdruck vielleicht über¬
haupt keine wirkliche ornamentale Druckschrift des Renaissancetypus, keine Schrift,
die gegossen war, wenn man allerdings von einem Alphabet ornamentaler Versalien
absieht, die der Pariser Drucker Le Rouge um 1512 zum größeren Schriftgrad seiner
Italika hinzusetzte. Ist sie ornamental auch zweifellos interessant, so kann sie doch
nicht als eine Schrift von Renaissanceschnitt gelten, denn einige Buchstaben dieses
Alphabets, wie etwa das E in unserer schon früher angeführten Probe (Abb. 68), sind
sichtlich gotischer Herkunft. Die Konstruktion des A sodann mit oberer, auf die ganze
Breite des Schriftbildes ausgedehnter beiderseitiger Serife erinnert schließlich an die
romanischen Varianten dieses Buchstabens, denen wir auch in einigen begleitenden
großen Alphabeten der Gotico-Antiqua begegnen, wie zum Beispiel in der hier an¬
geführten Kollektion dieser Übergangsschrift des Augsburger Druckers Hohenwang
(Abb. 46). Im Versalienalphabet derselben Schrift finden wir auch das H mit einem
in den Querbalken eingelegten Bogen, ähnlich wie bei den Versalien einer ebenfalls
aus den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts stammenden Antiqua des veneziani¬
schen Typus, die sich im Besitz der Pariser Drucker César und Stoll befand. Für
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