TEIL IV. DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE
UND DES RENAISSANCETYPUS
KAPITEL I. DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
SCHON IN DER MITTE des 14. Jahrhunderts, zur Zeit der höchsten Blüte der
gotischen Schrift, zeigen sich die ersten Anzeichen einer neuen, für die ganze weitere
Zukunft entscheidenden Wendung der Entwicklung der Lateinschrift, einer Renais¬
sance, die in aufeinanderfolgenden Perioden des Strebens entweder nach einer deutli¬
chen oder nach einer schnellen Schrift Gestalt annimmt. Obwohl manche Gründe und
Begleiterscheinungen dieser Wendung an die sogenannte karolingische Renaissance
sechs Jahrhunderte zuvor erinnern, war diese neue Renaissancewelle, die den Beginn
einer neuen historischen Epoche ankündigt, diesmal nicht zentral organisiert, sondern
durch eine spontane Reaktion auf die überlebte Weltanschauung des Hochmittel¬
alters hervorgerufen. Auch geographisch hegt der Brennpunkt der Reform nicht mehr
auf dem Boden Frankreichs, wo die vorangegangenen beiden Entwicklungsstufen der
Lateinschrift - die karolingische Minuskel und die gotischen Schriften - entsprungen
waren, sondern nach langer Zeit wieder in Italien, das nicht nur der formalen Ge¬
staltung der Schrift West- und Mitteleuropas eine neue Richtung wies, sondern auch
eine neue universelle Orientierung der gesamten Weltanschauung dieses Kulturge¬
bietes in die Wege leitete. Die Wiederbelebung der klassischen Schrifttradition war
nur ein Glied der weit verzweigten und sehr komplizierten Ursachen entspringenden
Kulturbewegung, die heute summarisch als Humanismus oder in der Kunstgeschichte
als Renaissance im engeren Sinne bezeichnet wird. Diese Bewegung war nicht nur das
Bemühen um eine Wiedergeburt antiker Geisteswerte, ein Bestreben, das übrigens das
ganze Mittelalter hindurch niemals völlig erlosch, sondern sie ist auch auf eine Reihe
anderer Beweggründe zurückzuführen: die Unzufriedenheit mit den rauhen Formen
und Inhalten des Lebens, das Bedauern über den nationalen Verfall Italiens und vor
allem über den Untergang des barbarisierten, auch vom Papst verlassenen Roms, die
Abneigung gegen die überpersönlichen Doktrinen und den Mystizismus der Scholastik,
gegen die Konzeption des Menschen als eines unglücklichen Sprosses der Erbsünde,
die Abneigung gegen eine Einengung des Sinnes der menschlichen Existenz auf eine
bloße Vorbereitung des Lebens nach dem Tode, das Nichteinverständnis mit der
Herabwürdigung der Natur zu einem bloßen Tal der Tränen usw. Sinn und Ziel der
menschlichen Weisheit und Maßstab der geistigen Werte sollte künftig nicht mehr
ausschließlich Tod und Erlösung sein, sondern das Leben des Menschen selbst, sein
irdisches Glück und seine Freude. Mittel der Befreiung aus den Fesseln des mittel-
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