DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
wenn ihr Autor auch kein holländischer Schriftschneider war. Sie wurde nämlich um
das Jahr 1690 von dem aus dem ungarischen Tótfal stammenden Nikolaus Kiss (Kisch)
geschaffen, der als Korrektor der in Amsterdam gedruckten ungarischen protestan¬
tischen Bibel in diese Stadt kam. Dort erlernte Kiss auch das Druckgewerbe und das
Schneiden von Drucklettern und gewann schließlich auf diesem Gebiet eine beacht¬
liche Berühmtheit als Schneider hebräischer, armenischer und anderer orientalischer
Schriften. Nach seiner Rückkehr in die Heimat sah er sich religiösen Verfolgungen
ausgesetzt, die ihn nicht nur an der Fortsetzung seiner Tätigkeit als Schriftschneider
und Drucker hinderten, sondern auch seinen vorzeitigen Tod verursachten. Seine
Antiqua, deren Matrizen in die Leipziger Ehrhardtsche Schriftgießerei gelangten und
in unserer Zeit unter Jansons Namen herausgebracht wurden, entstand während
seines Aufenthalts in Amsterdam und trug auch alle charakteristischen Merkmale
einer Antiqua niederländischen Spätrenaissanceschnitts. Das wird nicht nur in seiner
Antiqua deutlich, die zeichnerisch mit der Schrift van Dycks übereinstimmt, mit Aus¬
nahme vielleicht des scharfen Scheitels beim Versal A und der etwas kontrastreicheren
Zeichnung des Ganzen, sondern auch in seiner Italika (Abb. 84) mit ihrem nicht
minder charakteristischen holländischen Schnitt. Dieser Charakter ist außerdem auch
im Satz nachweisbar, in dem besonders bei größeren Schriftgraden das große Schrift¬
bild der Antiqua und die nüchterne Zeichnung der Italika zur Geltung kommen. Im
ganzen vermag diese Schrift also die niederländische Spätrenaissance-Antiqua und
-Italika des 17. Jahrhunderts im Ensemble unserer Alphabete zufriedenstellend zu
vertreten.
Historisch nicht weniger bemerkenswert ist die Tatsache, daß die ausgereifte nieder¬
ländische Antiqua des 17. Jahrhunderts jenseits der Grenzen ihres Landes eine außer¬
gewöhnlich, gute Aufnahme im Buchdruck so entgegengesetzter Machtbereiche fand,
wie es das zeitgenössische katholische Spanien und das protestantische England waren.
Die Vereinigten Provinzen der Niederlande des 17. Jahrhunderts - bis vor kurzer
Zeit selbst spanischer Besitz und noch Nachbar des spanischen Flandern - waren
übrigens nicht das erste geographisch und der Bevölkerungszahl nach kleine Land, aus
dem mächtigere Nachbarn kulturell schöpften. Auch in der Geschichte der Schrift
sind sie in dieser Beziehung kein vereinzelter Fall. So kommt die breite Zeichnung der
niederländischen Antiqua von der Zeit vor der zweiten Hälfte des 17. bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts immer häufiger in spanischen Drucken vor, bis sie für den spa¬
nischen Buchdruck beinahe typisch wird. Für eine derartig typisch spanische Schrift
hält zum Beispiel Updike die sehr nah verwandte Version der niederländischen An¬
tiqua und Italika in einem Probendruck, der erst 1787 von Geronimo Gil in Madrid
herausgegeben wurde. Noch 1793 führt der Madrider Schriftgießer Eudaldo Pradell
unter seinen Proben eine ähnliche alte Replik der Antiqua und Italika desselben
Typus an.
In England, wo die letzte, sehr späte Form der Antiqua und Italika des Renais¬
sancetypus entstand, überwogen im ganzen 17. Jahrhundert aus Holland importierte
Schriften, die die englischen Drucker und Kenner außerordentlich schätzten. Unter
ihren führenden Bewunderern wurde hier bereits Joseph Moxon zitiert, in den Jahren
1659-1683 selbst Schriftgießer, der neben seiner übrigen vielseitigen Tätigkeit auch
als erster englischer Theoretiker auf dem Gebiet der Druckschrift und des Buchdrucks
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ANTIQUA UND ITALIKA DES SPÄTRENAISSANCETYPUS
mit seinem 1683 in London erschienenen Buch Mechanick Exercises hervortrat. Als
Schriftgießer ragte Moxon jedoch nur wenig über das Gesamtniveau der zeitgenössi¬
schen englischen Schriftkunst hinaus, das übrigens recht niedrig war, während die
zeitgemäße Bemerkung 'printed in Dutch types' auf den Titelblättern englischer
Drucker dieser Zeit eine Gewähr für Qualität darstellte. Moxons eigene Antiqua war
natürlich eine bloße Kopie des holländischen Musters, ebenso wie die von anderen
englischen Schriftgießern produzierten Antiquaschriften. Erwähnenswert ist vielleicht
noch die Schrift, die in der zweiten Hälfte des ^.Jahrhunderts der Londoner Schrift¬
gießer J. Grover wenn schon nicht selbst schnitt, so doch goß. Es ist dies eine Antiqua,
deren verhältnismäßig eng gedrängter Schnitt, damit bereits stark vom geläufigen
holländischen Typus unterschieden, auf die speziellen Bedürfnisse des Zeitungsdrucks
zurückzuführen ist. Mehr noch unterscheidet sie sich durch die Zeichnung einiger
Lettern, besonders des Versals U in einer Minuskelform, deren rechter Schaft auf die
Ebene der Grundlinie gezogen ist, übrigens eine im 17. Jahrhundert recht häufige und
ausschließlich auf dieses Jahrhundert beschränkte Erscheinung.
Unter den englischen Schriften des 17. Jahrhunderts werden häufig die als Fell types
bekannten und noch heute verwendeten Antiqua- und Italikaschriften erwähnt. Es
sind dies verschiedene aus Holland importierte Schriften, mit denen der Bischof Dr.
John Fell in den Jahren 1667-1672 die Universitätsdruckerei in Oxford ausstatten ließ.
Doch die um diese Zeit nach England eingeführten holländischen Schriften waren
deshalb nicht mehr alle notwendig holländischen Schnittes. Sie konnten zwar in Hol¬
land gegossen, die holländischen Matrizen aber andererseits aus französischen Stem¬
peln geschlagen sein, die sich im Besitz einiger deutscher Schriftgießereien befanden.
Wie schon erwähnt, bestellten holländische Drucker wie die Elzeviers und auch hollän¬
dische Schriftgießer ihre Matrizen in Frankfurt, und so läßt sich erklären, daß einige
von Fells Schriften im Oxforder Probendruck von 1693, die hauptsächlich von den
Brüdern Voskens geliefert wurden, mit Proben des Egenolffschen Musterblatts von 1592
identifiziert werden können. Von den größten Schriftgraden der Feilschen Kollektion
hat man sodann in letzter Zeit festgestellt, daß sie nicht direkt holländischen Ursprungs
sind, sondern daß sie Peter Walpergen in Oxford schnitt. Es ist dies also ein Ensemble
von recht gemischter Herkunft und keineswegs so typisch holländisch, wie man früher
vermutete.
Das letzte Glied in der langen, von den aldinschen Antiquaschriften Francesco
Griffos und den Italikaschriften Ludovico Vicentinos eingeleiteten Entwicklungskette
der Antiqua und Italika des Renaissancetypus ist jene Schrift, die im ersten Drittel
des 18. Jahrhunderts der Engländer William Caslon (1692-1766) schuf. Bewußt oder
unbewußt war Caslon der letzte Schüler der berühmten garamondschen Schriftkunst¬
schule, zu einer Zeit, als in Frankreich und Holland der Schnitt der Antiqua und Ita¬
lika inzwischen eine ganz neue Gestalt angenommen hatte. Es ist dies kein geringes
Zeichen für den englischen Konservativismus, wenn wir in Erwägung ziehen, daß Caslon
sein ganzes Leben lang von den neuen Richtungen des europäischen Schriftschaffens
unbeeinflußt blieb, die zu dieser Zeit, wie wir sehen werden, das Gepräge der typo¬
graphischen Produktion am anderen Ufer des Kanals so durchgreifend veränderten.
Caslon ist wiederum ein Beispiel für die Tatsache, daß die Schriftschneider mehr
Glück mit der Zeichnung einer Druckschrift hatten als die Kalligraphen. Nach der
Lehrzeit als Ornamentgraveur bei einem Büchsenmacher eröffnete Caslon mit vier-
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