DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
sie nach vorübergehender zweihundertjähriger Vergessenheit in zahllosen modernen
Repliken rehabilitiert wurde.
Die französische Garamond-Antiqua war also mit der Granjon-Italika auch während
des ganzen 17. Jahrhunderts die einzige, universelle Schrift dieser Klasse in der euro¬
päischen Typographie. Ihr typisch französischer Charakter wurde niemals und durch
keine der zahllosen nationalen und lokalen Versionen, die demütig das französische
Original kopierten, verwischt. Die einzige Ausnahme stellten die Niederlande dar, wo
die Zeichnung der französischen Renaissance-Antiqua und -Italika durch die hei¬
mischen Schriftschneider während des 17. Jahrhunderts im Geist des Nationalcharak¬
ters so stark verändert wurde, daß man hier von einer Antiqua neuen Typus sprechen
kann. Der Einfluß dieser holländischen Version der französischen Antiqua und Italika
des 16. Jahrhunderts war stark genug, um sich auch über die Grenzen des Landes
hinweg auszubreiten, vor allem in westlicher Richtung nach England. Die Reichweite
dieses Einflusses erstreckte sich aber auch weit nach Süden und Osten, wie z. B. bei
Peters Reformen des russischen Alphabets. In England akklimatisierte sich diese hol¬
ländische Modifikation so gut, daß sie schließlich zur englischen Nationalform wurde.
Wir gehen deshalb nicht fehl, wenn wir diese bereits barocke Version der Renaissance-
Antiqua und -Italika der zweiten Untergruppe der Antiqua des aldinschen und der
Italika des vicentinoschen Typus unter der Bezeichnung ANTIQUA UND ITALIKA
DES NIEDERLÄNDISCH-ENGLISCHEN SPÄTRENAISSANCETYPUS beifü¬
gen. Es ist leider nicht gut möglich, von diesen Schriften als rein barocken Formen
zu sprechen, wozu die chronologische Analogie aus der Kunstgeschichte verleiten
könnte, denn wie wir sehen, machte sich das Barocke in ihr so gut wie gar nicht oder
in nur so geringem Maß bemerkbar, daß der Renaissancecharakter der Schriftzeich¬
nung im wesentlichen unberührt blieb. Wenn auch das Barocke in den Schriftformen
nicht zum Ausdruck kam, wird es um so stärker in der zeitgenössischen Buchgestaltung
sichtbar: deren Möglichkeiten wurden um eine neue Reproduktionstechnik erweitert -
den Kupferstich.
Das größte Verdienst um den außergewöhnlich bedeutungsvollen Platz in der Ge¬
schichte des Buchdrucks, den Holland gegen die Konkurrenz von Basel, Paris und
Antwerpen als Zentrum des Weltbuchhandels im 17. und 18. Jahrhundert errang,
muß man der Tätigkeit des berühmten Druck- und Verlagsbetriebs der Familie Elze-
vier zugestehen. Sie wurde im Jahre 1583 von Ludwig Elzevier (1540-1717) in Leyden
gegründet, aber die Dynastie seiner Nachkommen dehnte den Wirkungsbereich des
Familienunternehmens auch auf Amsterdam, Utrecht und den Haag aus. Die ver¬
hältnismäßig günstige Situation des Landes in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
und seiner drückenden Folgen für das übrige Europa machten Holland zu einer Zu¬
fluchtstätte der geistigen Elite der weniger glücklichen Völker - denken wir nur an die
tschechischen Emigranten Jan Arnos Comenius, Wenzel Hollar und Pavel Stránsky -
und trug zum Erfolg der Elzeviers bei, die ihren Ruhm hauptsächlich durch den
Druck ansehnlicher und billiger Klassikerausgaben, der sogenannten Republiken im
Kleinformat und mit Titelblättern in Kupferstich begründeten. Die umfangreiche
Drucktätigkeit der Elzeviers, die bis 1712 währte, bewirkte natürlich einen außer¬
ordentlichen Verbrauch an Schriftmaterial. Aber weder der Leydener noch der Amster¬
damer Zweig der Familie Elzevier stellte die Schriften im eigenen Betrieb her, sondern
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ANTIQUA UND ITALIKA DES SPÄTRENAISSANCETYPUS
besorgte sie durch Kauf von auswärts. Hauptlieferant war die Frankfurter Schrift¬
gießerei der Luther, die Egenolffs Nachfolger wurden. Aus dieser Quelle bekamen die
Elzeviers die ursprüngliche Antiqua Garamonds und Granjons, wie Charles Enschedé
nachwies, der feststellte, daß beinahe alle Antiquaschriften in den Schriftproben des
Leydener Druckers Johann Elzevier von 1658 aus der Frankfurter Schriftgießerei
kamen, und daß ihr größter Teil auch in Egenolffs Musterblatt von 1592 enthalten ist.
Nichtsdestoweniger entstehen am Ende der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Hol¬
land heimische Schriftgießereien, die der so schweren ausländischen Konkurrenz mit
Schriften lokalen Schnittes standzuhalten vermochten, aber ihre Bedeutung wurde in
der Zukunft durch den Glanz des Elzevierschen Ruhmes stark in den Schatten gestellt.
Die holländische Schriftgießerei des 17. Jahrhunderts konnte sich jedoch auf eine
alte heimische Tradition stützen, deren Grundstein in der Zeit der Wiegendrucke gelegt
wurde, und es waren dies nicht nur Schriften des gotischen Typus, die hier seit der
Zeit hergestellt wurden. Wenn die niederländischen Schriftschneider beim Schnitt der
Renaissancetypen auch weniger originell waren, kann man hier im 16. Jahrhundert
doch Schriften solcher Art verzeichnen, wo die Spuren des Nationalcharakters sehr
deutlich sind, wie z. B. in jenem Versalienalphabet, dessen Matrizen sich bis heute im
Fundus der Schriftgußfirma Enschedé in Haarlem erhalten haben und als dessen Autor
vielleicht Cornelius Henricx gelten kann (Abb. 82). Eine bedeutende, durch den
Ruhm der Elzeviers in den Hintergrund gedrängte, aber um den Ruf der holländi¬
schen Schriften zweifellos sehr verdiente holländische Schriftgießerei des 17. Jahr¬
hunderts war jene Werkstatt, die Dirck und Bartholomäus Voskens im Jahre 1641
begründeten. Ein ähnliches Schicksal war auch weniger bekannten Schriftgießern wie
zum Beispiel Johannes Kannewet und Johannes Rolu in Amsterdam beschieden.
Etwas stärker in den Vordergrund des Interesses geriet, insbesondere wegen der
günstigen Aufnahme seiner Schriften in England, Christoffel van Dyck oder Dijck (1610-
1670), anscheinend der tüchtigste unter den holländischen Schriftkünstlern des 17.
Jahrhunderts. Van Dyck, ursprünglich ein Letternschneider, der für verschiedene
Schriftgießereien arbeitete, eröffnete in den Jahren 1647-1648 eine eigene Gießerei
und wurde zum vornehmlichen Hauslieferanten der Elzeviers. Ihm wird auch das
gesamte Verdienst um die Entstehung eines charakteristischen Schnittes der holländi¬
schen Antiqua und Italika zugeschrieben, obwohl es wohl der Wahrheit näherkommt,
daß auch er nicht ohne Vorgänger war. Jedenfalls schätzen zeitgenössische Zeugen
die Qualitäten seiner Arbeit außergewöhnlich hoch ein. Die Witwe Daniel Elzeviers,
die 1681 ein Probenblatt der von van Dyck für die Elzeviers hergestellten Schriften
herausgab (Taf. XXVII), sagt darin von ihm zum Beispiel, daß er ein großer Meister
seiner und kommender Zeiten sei. Und Joseph Moxon, ein zeitgenössischer englischer
Theoretiker des Buchdrucks, sagt über seine Schriften, daß sie in allem vollendet seien,
wodurch eine Schrift 'regelmäßig (regular) und schön' wird. Auch einige moderne
Fachautoren - und nicht nur holländische - schreiben mit großer Anerkennung über
van Dycks Antiqua. So stellt Stanley Morison (Type Designs of the Past and Present,
London 1926) diese Antiqua hinsichtlich ihrer ästhetischen Qualität sogar jener Gara¬
monds voran, obwohl er natürlich die größere historische Bedeutung der Schrift des
französischen Meisters anerkennt. Er weist schließlich auf die häufige Tatsache hin,
daß aus historisch wichtigen Formen abgeleitete Schriften in ihrer Zeichnung den
Prototyp übertreffen. Im Falle Garamonds sei dies bei den Schriften Robert Granjons
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