DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
der Italika mit kalligraphischen Versalien, der der ersten Schrift Ludovico Vicentinos
verwandt ist. In einer weiteren Italika, seiner größten und der Schrift des ganzen Textes
des Buches Raison de l'architecture von Diego de Sangredo aus dem Jahre 1536, kehrte
Simon de Colines nach dem Beispiel Vicentinos beim b, d, h, l zu den Serifen der
Buchstabenschäfte zurück; mit der so revidierten Italika druckt auch Robert Estienne
um 1546 im typographischen Stil Vicentinos, Blados und Marcolinis. Es war bisher
nicht festzustellen, ob sich Simon de Colines selbst mit dem Schneiden seiner Schrift
abgab, oder ob er diese Aufgaben damals Garamond übertrug. Ganz unwahrschein¬
lich ist die häufig geäußerte Meinung, daß der Autor der Italikaschriften des Simon
de Colines' Geoffroy Tory sein könnte, der in seiner eigenen Druckerei niemals irgend¬
eine Italika besaß.
Die Italikaschriften von Simon de Colines und Robert Estienne aus den vierziger
Jahren des 16. Jahrhunderts bestätigten aber tatsächlich in vieler Hinsicht die Mei¬
nung, daß ihr Autor Claude Garamond sein könnte. Diese Schriften haben große
Ähnlichkeit mit zwei Stufen der Italika in eigenen Garamondschen Drucken, die seit
1545 gemeinsam mit ihm Pierre Gaultier und Jean Barbé herausgaben (Abb. 77). Die
Garamondsche Dedikation zum ersten seiner Bücher, David Chambellans Pia et re¬
ligiosa meditatio aus dem Jahre 1545, enthält einige interessante Daten sowohl über
sein Leben als auch über die Entstehung seiner Italikaschriften. Garamond berichtet
hier unter anderem, daß er seit seiner Knabenzeit die Kunst des Schriftschneidens und
Schriftgießens pflegte, wenn auch mit nur geringem Gewinn für seinen Geldbeutel.
Um ihm zu Geld zu verhelfen, soll ihn Jean Gagny - der erste Almosenier des 'aller-
christlichsten Königs' - aufgefordert haben, nicht mit seinen Schriften Honig für die
Drucker zu sammeln, sondern heber selbst im Verlagswesen sein Glück zu versuchen.
Garamond dankt in der Folge demselben Gagny für seinen Rat, daß die beste Ein¬
leitung seiner Tätigkeit der Schnitt einer neuen Schrift nach der Italika des Aldus Ma-
nutius sei. Und danach hielt sich Garamond, wie er selbst berichtet, indem er für sein
erstes Buch eine solche Schrift anfertigte. Beide Grade der so inspirierten Garamond¬
schen Version der aldinschen Italika unterscheiden sich aber von ihrem Muster durch
die französisch lebhaftere Zeichnung des kleinen Alphabets und im größeren Grad
durch die kursive Neigung der Versalien. Diese bedeutende Abweichung von der
aldinschen Tradition, die häufig Garamond zugeschrieben wird, war aber, wie wir
wissen, zu dieser Zeit keine Neuheit mehr.
Um die Entwicklung in jener Richtung voranzutreiben, wie sie schon die Baseler
Italika angedeutet hatte, machte sich nach neueren Ansichten erst die folgende Gene¬
ration von Schriftschneidern der Schule Garamonds verdient, die der Italika jenen
typisch nationalen französischen Charakter verliehen, durch den sich bereits die fran¬
zösische Antiqua des Renaissancetypus auszeichnete. Für die Gruppe der Italika¬
schriften, deren Stil dieser Antiqua entsprach und die wir analog unter der Bezeichnung
ITALIKA DES FRANZÖSISCHEN RENAISSANCETYPUS zusammenfassen, ist
vor allem eine verhältnismäßig starke, aber nicht einheitliche Neigung des kleinen und
großen Alphabets charakteristisch, wie das auch im europäischen Schriftgewerbe etwa
von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis in die Zeit Casions zum Ausdruck kommt.
Erst in der Italika dieses Typus wurde die Frage der kursiven Neigung der Versalien,
die bis auf die genannten Ausnahmen stets senkrecht standen, zufriedenstellend ge-
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