DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
Manutius, vergegenwärtigten. Von dieser Schrift unterscheidet sich die Garamondsche
Antiqua jedoch durch eine graphisch bedeutsame Abweichung in der Ausgewogen¬
heit der gegenseitigen Beziehungen des kleinen und großen Alphabets. Garamond
hielt sich in dieser Beziehung nicht an das Beispiel Francesco Griffos, der im Interesse
einer einheitlichen Farbe der Satzseite das Bild der Versalien fühlbar verkleinerte und
ihre Zeichnung im Verhältnis zu den Kleinbuchstaben dünner gestaltete, dagegen
jedoch ähnlich wie Nicolas Jenson die Höhe des großen Alphabets auf die der ver¬
hältnismäßig langen Oberlängen der Minuskeln übertrug. Damit beging er nach dem
Urteil einiger Kritiker einen schweren Fehler, der durch die Tradition auch in unsere
Praxis überging.
Die so ausgestattete französische Renaissance-Antiqua goß Claude Garamond in
seiner Schriftgießerei und lieferte sie allen bekannten und weniger bekannten Druckern
seiner Zeit. Seit der Mitte des Jahrhunderts überwiegt sie im Satz der Bücher, die
nicht nur bei Robert Estienne, François Gryphius, Vascosan und André Wechel in
Paris, sondern auch bei Jean de Tournes, Sébastian Gryphius und Jehan Duvet in
Lyon, Oporinus in Basel und vor allem bei dem Antwerpener Christophe Plantin, dem
größten Drucker und Verleger des 16. Jahrhunderts, gedruckt wurden. Aus Gara¬
monds Werkstatt kamen aber nicht nur Kollektionen verschiedener Grade der An¬
tiqua, sondern neben anderen Lateinschriften auch griechische, hebräische und orien¬
talische Schriften. Trotz dieser für seine Zeit sicher sehr umfangreichen Tätigkeit war
Garamond anscheinend materiell nicht sehr erfolgreich, denn er selbst beschwert sich
darüber in der Dedikation seines ersten Buches, David Chambellans Pia et religiosa
meditatio aus dem Jahre 1545. Nach glaubwürdigen Nachrichten starb Claude Gara¬
mond im November des Jahres 1561 in Armut im hohen Alter von 81 Jahren. Sei es
aus Mangel an Existenzmitteln, oder vielleicht auch weil Garamond keinen Erben
hinterließ, der sein Werk fortgeführt hätte, Garamonds Witwe mußte die Einrichtung
und das Material der Werkstatt ihres verstorbenen Gatten verkaufen. Das Inventar¬
verzeichnis des Garamondschen Nachlasses, das Jean Le Suer und Guillaume Le Bé,
Garamonds Schüler und Mitarbeiter, unterschrieben hatten und das André Wechel,
einer der führenden Pariser Drucker dieser Zeit, beglaubigte, blieb bis ins 18. Jahr¬
hundert erhalten, wo es noch im Jahre 1756 Jean Pierre Fournier l'Aîné erwähnt.
Bedauerlicherweise ist dieses Dokument seither verschollen; es könnte sicherlich sehr
zur Aufhellung des Garamondschen Problems beitragen. Dank dem Zeugnis Guillaume
Le Bés wissen wir über das Schicksal der Garamondschen Hinterlassenschaft mehr.
Die Matrizen und fertigen Schriften kaufte Christophe Plantin, der um diese Zeit
gerade zu Besuch in Paris war, für seine Antwerpener Druckerei; in seinem Inventar¬
verzeichnis von 1564 führt er mehrere Garamondsche Schriften namentlich an. Den
größeren Teil der Stempel erwarb André Wechel, einen kleineren erhielt Le Bé von
der Witwe.
Der Hugenottenkrieg, der 1573 André Wechel nötigte, seine Tätigkeit von Paris
nach Frankfurt am Main zu verlegen, fügte Frankreich einen fühlbaren Verlust zu,
denn Wechel übersiedelte mit der übrigen ¿Einrichtung seiner Druckerei auch die
Garamondschen Stempel nach Deutschland. In Frankfurt, wo Wechel mit den Ga¬
ramondschriften auch herrliche Ausgaben lateinischer Literatur druckte, tauchte diese
Schrift nach kurzer Zeit in der berühmten Schriftgießerei auf, die sich hier aus der
ursprünglichen Druckerei Christian Egenolffs zum bedeutendsten europäischen Un-
150
ANTIQUA DES FRANZÖSISCHEN RENAISSANCETYPUS
ternehmen seiner Art und Zeit entwickelt hatte. Diese Schriftgießerei gab dann im
Jahre 1592 ein Musterblatt ihrer Schriften heraus, ein außergewöhnlich bedeutungs¬
volles Dokument, nicht nur weil es der erste Schriftgußkatalog überhaupt war, sondern
auch weil hier sieben der neun angeführten Antiquaschriften (Taf. XXVI) den Na¬
men Garamonds tragen. Da die Authentizität und Autorität dieses Dokuments über
alle Zweifel erhaben ist, haben wir in Egenolffs Musterblatt eine zwar ziemlich späte,
aber glaubwürdige Bestätigung für die Garamondsche Autorschaft wenigstens der
höchstentwickelten und typischen Form der französischen Renaissance-Antiqua.
Am Ende des 16. Jahrhunderts wurde die Garamondsche Version der Antiqua des
aldinschen Typus zur europäischen Standardschrift, die alle älteren Formen der An¬
tiqua verdrängte. Während sie sich von der Frankfurter Schriftgießerei der Familie
Luther, den Nachfolgern der Egenolffs, - wie wiederum ihre lateinischen Schrift¬
proben aus den Jahren 1622, 1664, 1702, 1718 und 1745 bezeugen - aus den ursprüng¬
lichen Garamondschen Stempeln über Europa verbreitete, produzierten die direkten
und indirekten Schüler und Nachfolger Garamonds in Frankreich eigene Repliken der
Antiqua des Garamondschen Schnitts. An erster Stelle war es der schon genannte
Guillaume Le Bé (1525-1598), der selbst zum Begründer einer bedeutenden Schrift¬
gießerei wurde. Bereits bei Garamond zeichnete er sich durch seinen Schnitt der
hebräischen Buchstaben aus, war dann aber auch jenseits der Grenzen Frankreichs,
in Rom und Venedig tätig. Nach dem Tode Garamonds im Jahre 1561 ließ er sich in
Paris nieder und begann mit dem Material aus dem Nachlaß seines Meisters eine
eigene Schriftgießerei aufzubauen, die zu ihrer Zeit sehr berühmt wurde. Sein schrift-
gießerisches Werk faßte er an der Neige seines Lebens in dem Musterbuch Spécimen
de caractères Hébreux, Grecs, Latins... gravé à Venice et à Paris (1545-1592) zu¬
sammen. Aber weder er, noch seine Nachfolger, der Sohn Henri Guillaume oder sein
Enkel oder Urenkel, die das Familienunternehmen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
leiteten, brachten im wesentlichen etwas Neues in den fest stabilisierten Schnitt der
Garamondschen Antiqua. Auch Robert Granjon, der uns bereits bekannte Autor der
gotischen Schreibdruckschrift Civilité, hatte in seinen Repliken der Garamondschen
Antiqua offenbar keinen anderen Ehrgeiz, als seine Vorlage möglichst getreu zu re¬
produzieren, wie aus zwei Beispielen seiner Antiqua deutlich wird, die das Muster¬
blatt der Egenolffschen Schriftgießerei von 1592 bringt. In ebensolcher Abhängigkeit
von der stabilen Garamondschen Tradition fertigte ein weiterer bedeutender fran¬
zösischer Schriftschneider und -gießer, Jacques de Sanlecque (1573-1648), seine An¬
tiquaschriften an. In seinem Betrieb, der von der Gründung im Jahre 1596 über vier
Generationen bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bestand, machten sich an
der Garamondschen Antiqua später allerdings verschiedene Einflüsse der Zeit geltend,
die der Reinheit ihrer Zeichnung nicht zuträglich waren. Inzwischen aber entwickelte
sich schon lange vorher, gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts, auch die Itahka in
Frankreich zu einer sehr eigenartigen, typisch französischen Form, und wir müssen
somit zu den Anfängen ihrer interessanten Entwicklung zurückkehren.
Seit der ersten aldinschen Italika des Guillaume Le Rouge von 1525 wurden in
Paris nicht viele Bücher mit der Italika gedruckt, und erst Simon de Cofines, der
beide italienischen Schulen, die aldinsche und die vicentinosche, kopierte, machte
sich um ihre Verbreitung verdient. Im Jahre 1528 besaß er bereits einen größeren Grad
151