DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
Antiqua Nicolas Jensons war. Drittens wurde der Irrtum der völlig unbegründeten
Datierung des Zustandekommens der neuen Antiqua im Jahre 1540 nachgewiesen.
Und schließhch, viertens, hat man mit nicht geringerer Bestimmtheit festgestellt, daß
die sogenannten caractères de l'Université weder das Werk Garamonds noch eines
anderen Schriftschneiders des 16. Jahrhunderts waren. Die also in allen Punkten wider¬
legte, von den Autoren populärer Handbücher jedoch so begünstigte Legende konnte
bisher leider durch keine annähernd ähnliche einfache Auslegung ersetzt werden.
Um eine kritische Erörterung und Aufhellung einiger Probleme des Entwicklungs¬
verlaufs der Antiqua in dieser so entscheidenden Phase haben sich moderne englische
Forscher verdient gemacht, in erster Linie Stanley Morison, der die Verbindung der
einzelnen Glieder in der Entwicklungskette der Druckschrift des 15. und 16. Jahr¬
hunderts entdeckte und die Ergebnisse seiner Arbeit hinsichtlich der Antiqua in dem
Werk The Type of the Hypnerotomachia Poliphili in der Gutenberg-Festschrift von
1925 veröffentlichte. Morison kommt hier durch den Vergleich der verschiedenen
Entwicklungsstufen der aldinschen Antiqua mit der Antiqua des Jensonschen Eusebius
und den ersten Garamondschriften zu dem Schluß, daß überall dort, wo sich die so¬
genannte Garamond von der Jenson unterscheidet, sie überraschend der aldinschen
Antiqua des Traktats De Aetna von Pietro Bembo aus dem Jahre 1495 entspricht. Der
horizontale Querbalken der kleinen Letter e, der Versal M ohne die auf jensonsche
Art am Kopf der Schäfte ins Innere des Schriftbildes überzogenen Serifen und schlie߬
lich die nur nach innen verlaufende Serife des Schaftes beim Buchstaben G, abgesehen
von der im ganzen recht kondensierten und kontrastreichen Zeichnung beider Alpha¬
bete, sind gleichermaßen die Hauptmerkmale der ersten 'Garamond-Schriften', die
im Satz der Pariser Drucker schon im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts in Erschei¬
nung traten. Hieraus geht zweifellos hervor, daß es nicht Jenson war, sondern die
aldinsche Antiqua, die der weiteren zeichnerischen Ausformung der Antiqua des Re¬
naissancetypus in der französischen Typographie als Prototyp diente. Die Antiqua des
Traktats Pietro Bembos stimmt also im wesenthchen mit der Antiqua vom Schnitt der
ersten Garamond-Schriften überein, die später mit größter Wahrscheinlichkeit bereits
Garamond selbst nach der aldinschen Antiqua des Poliphilus revidierte. In dieser revi¬
dierten Form wurde dann die französische Renaissance-Antiqua von seinen zahlrei¬
chen Schülern und Nachahmern während der beiden folgenden Jahrhunderte dauernd
reproduziert.
Während bis vor kurzer Zeit in der eben genannten Frage der formalen Herkunft
der Garamond-Antiqua nicht genügend Klarheit herrschte, war die Frage ihrer Da¬
tierung noch dunkler. Das in der oben zitierten Legende erwähnte Jahr 1540 erwies
sich im Licht der kritischen Analyse als eine gänzlich zufällige Jahreszahl, mit der
im 18. Jahrhundert Stempel damals unbekannter Herkunft, die sogenannten carac¬
tères de l'Université, von dem nicht allzu gewissenhaften Konservator der Schrift¬
sammlung der Imprimerie Royale im Louvre nachlässigerweise gekennzeichnet wurden.
Den Beweis darüber führte die englische Forscherin Mrs. В. Warde, der die glückliche
Entdeckung gelang, daß diese caractères de l'Université - die Hauptquelle der Ver¬
wirrung, da man sie in keinem Druck aus dem 16. Jahrhundert feststellen konnte -
nicht in der Zeit Garamonds entstanden; vielmehr wurden sie vor 1615 geschaffen
und erstmalig im Jahre 1621 von Jean Jannon - einem Drucker und Schriftgießer in
Sedan und Paris, dessen Tätigkeit und Bedeutung wir später noch würdigen werden -
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ANTIQ.UA DES FRANZÖSISCHEN RENAISSANCETYPUS
in seinem Musterbuch angeführt. Dieselbe Forscherin wies außerdem in ihrer Arbeit
The 'Garamond' Types, die sie unter dem Pseudonym Paul Beaujon in der Sammel¬
schrift Fleuron aus dem Jahre 1926 veröffentlichte, nach, daß sich die Garamond-
Antiqua 1531 und im folgenden Jahre bereits im Besitz von mindestens vier Pariser
Druckern befand. Deren erster, Simon de Colines, beendete im November 1531 den
Druck der Ausgabe De literis Horatii von Terentianus Scaurus, die aus der neuen,
nach dem Autor des Werkes so benannten terentianischen Schrift gesetzt war; sie
wurde übrigens von Simon de Colines schon vorher für zwei kleine Traktate Guillaume
Bochetels über die Krönung der Königin Leonore - Le sacre de la Royne - verwendet,
die im Auftrag Geoffroy Torys im März und Mai desselben Jahres erschienen (Abb.
73). Simon de Cofines, der mit großer Wahrscheinlichkeit seine Schriften eigenhändig
schnitt und zu dieser Zeit das berühmte Unternehmen des verstorbenen Henri Estienne
leitete, dessen Witwe er im Jahre 1522 zur Frau nahm, experimentierte mit diesem
Schnitt der Antiqua zweifellos schon einige Jahre zuvor. In der Ausgabe des Galen
von 1528 verwendete er eine Version, die sich nur in der Zeichnung einiger Buchstaben
von der terentianischen Schrift unterschied, und schheßlich ist auch sein älterer Schnitt
im Satz von Geoffroy Torys erstem Stundenbuch aus dem Jahre 1525 gegenüber
den Antiqua-Schriften Henri Estiennes ein Fortschritt (Johnson). Hier haben wir be¬
reits eine nichtjensonsche Zeichnung der Majuskel M ohne nach innen gezogene Se¬
rifen, die Miniaturschlinge der Minuskel a, das ebenso kleine Äuglein und den beinahe
horizontalen Querstrich des Buchstabens e. Zwei Monate nach dem Erscheinen der
terentianischen Schrift bei Simon de Cofines im Januar 1532 druckte sein Zögling, der
Sohn und Fortsetzer des verdienstvollen verlegerischen und typographischen Werkes
Henri Estiennes Robert Estienne (Robertus Stephanus), sein erstes Buch. Es handelte
sich um Jacques Dubois, Isagoge, ein anspruchsvolles philologisches Werk, gesetzt aus
der neuen Antiqua, deren revidierte Version bei Robert Estienne noch im selben Jahre
in einer Ausgabe des Vergilius und später in weiteren Büchern dieses Druckers erschien
(Abb. 74). Im März 1532 kam in Paris noch ein anderes, typographisch ebenfalls sehr
bedeutendes Buch heraus, die Orationes des Andrea Novagero, das mit einer Gara-
mondschen Antiqua von Antoine Augereau gedruckt ist. Schheßhch wurde eine vierte
Antiqua des gleichen Typus im Jahre 1532 von Chrestien Wechel, einem weiteren
Pariser Drucker, verwendet.
Die Existenz dieser vier so verwandten Schriften bei verschiedenen Pariser Druckern
in den Jahren 1531 und 1532 widerlegt zwar die Garamondsche Legende bezüglich
der Datierung im Jahre 1540, bringt uns aber hinsichtlich der Urheberschaft der
traditionellen französischen Renaissance-Antiqua der Wahrheit nicht näher. Aus der
Annahme, daß als Schöpfer aller dieser Schriften zu einer Zeit, als die Pariser Drucker
mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Schriften noch selbst schnitten und sicher auch
gössen, kaum ein einzelner Schriftschneider gedacht werden kann, wurden verschiedene
Theorien abgeleitet, wonach Claude Garamond entweder der Autor wenigstens einer
dieser Antiquaschriften gewesen sein könnte oder seine Autorschaft überhaupt aus¬
geschlossen wird. Ein so negatives Urteil spricht B. Warde aus, die meint, daß der
Autor der Schrift, mit welcher der Dubois von Robert Estienne gedruckt wurde und
die als direkter Sproß der aldinschen Antiqua des Traktats Pietro Bembos historisch
am bedeutungsvollsten ist, am ehesten Antoine Augereau sein könnte, dessen Name
in der Geschichte der Schrift und des Buchdrucks nur deshalb so wenig bekannt ist,
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