DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
des Vicentinoschen kleinen Alphabets und der kalhgraphischen Versalien einen starken
Einfluß auf die weitere formale Entwicklung der 'Antiquakursiv' ausübte. Der Anteil
der zweiten Vicentinoschen Italika an der Entwicklung ist nicht so leicht feststellbar,
da sie selbst gewissermaßen schon eine Rückkehr zum aldinschen Typus darstellte.
Freilich wirkte das Beispiel der besseren Zeichnung dieser zweiten Version Vicentinos
zwangsläufig auch bei den französischen Schriftkünstlern mit, denen das nicht un¬
mittelbar bewußt wurde, wenn sie sich - wie zum Beispiel Claude Garamond - aus¬
drücklich um eine Replik der Italika des Aldus Manutius bemühten. Selbst wenn also
auch die zweite Vicentinosche Italika nicht unmittelbar als neuer Schrifttyp wirkte,
hatte sie doch bestimmt durch ihre weitaus besser verarbeitete, formal vollendete
Schriftzeichnung einen bedeutenden Einfluß. Und das ist vom Gesichtspunkt unseres
Interesses aus gewiß ein Verdienst von nicht geringer Bedeutung.
Zu Lebzeiten wurde Ludovico Vicentino anscheinend als erstrangige Persönlichkeit
der zeitgenössischen Schreibkunst vorbehaltlos anerkannt. Hiervon zeugt zum Beispiel
die Verehrung, die ihm sein Landsmann, der Literat Gian Giorgio Trissino, als dem zu
dieser Zeit besten Kalligraphen und Druckschriftzeichner erwies. Dieser vermögende
Adehge aus Vicenza wählte Vicentino deshalb zum Drucker seiner Werke. In diesen
versuchte Trissino sich unter anderem an der Reform der italienischen Rechtschrei¬
bung, die aber außer der Differenzierung zwischen den Buchstaben u-v und i-j nicht
verwirkhcht wurde. Zweifellos durch Vermittlung Trissinos besorgte sich dann To¬
lomeo Janiculo eine Kollektion der ersten Vicentinoschen Itahka. Janiculo war Drucker
in Vicenza, der Geburtsstadt Trissinos und Vicentinos, und wurde im Jahre 1529 mit
dem Nachdruck alter und den Erstausgaben neuer Bücher dieses Autors betraut.
Die Originalstempel der ersten Vicentinoschen Italika erwarb der berühmte Drucker
F. Minitius Calvus, der mit dieser Schrift sowohl in Rom als auch in Mailand setzte,
wohin er im Jahre 1531 seine Tätigkeit verlegte. Die Schrift Calvus' gab den direkten
Anstoß zur Entstehung der Itahka, die sich Antonio Castighone, ein anderer Drucker
in Mailand, nach 1540 besorgte. Seine Itahka, im übrigen ihrem Prototyp allseitig
verwandt, ist vor allem dadurch bemerkenswert, daß sie absolut senkrecht steht. Ein
weiteres und schönes Beispiel der Tatsache, daß die Kursivität der Italika nicht auf
ihrer Neigung beruht, wie man häufig und zu Unrecht annimt.
Zur Erweiterung des Wirkungsbereichs der Vicentinoschen Italika trug in nicht
geringem Maße bestimmt auch die Neuheit seiner Buchproduktion bei. Als Buch¬
graphiker enthielt sich Vicentino jeder Verzierung in der Buchgestaltung und arbeitete
in dieser Beziehung niemals mit anderen als rein typographischen Mitteln. Die typo¬
graphische Strenge seines Stils wurde darum zum Ideal zahlreicher Imitatoren, und
seine Italika nahm im zeitgenössischen Buchdruck mit der Zeit einen hervorragenden
Platz ein. Während die Italikaschriften des ersten Viertels des 16. Jahrhunderts nach
Morison insgesamt von der aldinschen Italika abgeleitet wurden, war die ITALIKA
DES VICENTINOSCHEN TYPUS im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts ebenso
häufig. Die so bezeichnete Gruppe von aus der Vicentinoschen Italika abgeleiteten
Schriften führte bereits eine Italika von Minitius Calvus an, die aus den Original¬
stempeln der ersten Vicentinoschen Schrift hergestellt war. Größere Möglichkeiten
hatte seine zweite, keineswegs auf den Satz außergewöhnhcher Drucke beschränkte
Italika, deren Stempel Antonio Biado, der größte römische Drucker des 16. Jahrhun¬
derts, erwarb. Seit der Herausgabe des ersten Bladoschen Buches, das aus dieser Italika
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ITALIKA DES VICENTINOSCHEN TYPUS
gesetzt wurde, den Sonetten Sannazaros von 1530, kann man sodann eine schnelle
Verbreitung des vicentinoschen Typus nicht nur in Rom, sondern auch im übrigen
Italien feststellen. Es war vor allem Venedig, wo die Italika des vicentinoschen Typus
merkwürdigerweise unmittelbar Fuß faßte. Den Weg ebnete ihr der dortige Kalligraph
Giovantonio Tagliente mit seiner Mustersammlung in der Ausgabe von 1531, deren
Textteil in der Druckerei der Brüder Nicohni da Sabbio mit einer Itahka gesetzt
wurde, die sich nur durch eine größere Neigung von der zweiten Schrift Vicentinos
unterscheidet. Nach kurzer Zeit besorgte sich auch Francesco Marcolini da Forli -
einer der bedeutendsten venezianischen Drucker, der fast alle seine Bücher mit der
Italika druckte - zu seiner alten aldinschen die Italika des vicentinoschen Typus. Sehr
wahrscheinlich geschah das auf Veranlassung seines intimen Freundes Pietro Aretino,
der an einer guten Typographie stark interessiert und zuvor einer der Autoren von
Vicentinos römischem Verlagsunternehmen war.
Unter den deutschen Druckern war es Johann Singrenius in Wien, der als erster
die Vicentinosche Schrift kopierte. Er tat dies im Jahre 1531 mit einer Version, die
die itahenische cancellaresca so getreu imitierte, daß sie beinahe als Druckskript klas¬
sifiziert werden könnte. Mit der gleichen Italika setzte im selben Jahre Hieronymus
Vietor, Drucker in Krakau und ehemaliger Geselschafter des Singrenius, ganze Texte.
Singrenius war wahrscheinlich auch der erste, der überhaupt versuchte, woran die
Schneider der ersten Italikaschriften offenbar gar nicht dachten, nämlich die logische
Ergänzung der geneigten Italika durch Versalien mit ebensolcher Neigung. Er tat
dies bei einer Italika älteren Schnittes bereits 1524 im Titelblatt der Vita Eremitae
a Divo Hieronymo conscripta, und obwohl diese Schrift keine außergewöhnlichen
Quahtäten aufweist und wohl auch nicht allzu häufig zur Anwendung kam, ist das
Problem der geneigten Versalien hier gleich beim ersten Mal mit recht gutem Erfolg
gelöst (Johnson).
In England besaß bereits gegen 1531 William Rastell in London eine vicentinosche
Italika mit kalhgraphischen Versalien, wohl französischen Ursprungs, und nach ihm
gelangte sie auch in den Besitz einer Reihe weiterer Drucker. Eine der Schrift Antonio
Blados ähnliche Itahka kommt noch im Jahre 1613 in Amsterdam vor, wo sie Henricus
Hondius neben Itahkaschriften von anderem Typus zum Druck des Mercatorschen
Atlasses verwendete. Das Material Gerard Mercatore, des berühmten Herstellers von
Karten und Autors der hier schon erwähnten kalligraphischen Sammlung italienischer
Manuskriptschriften, erbte Henricus' Vater Jodocus Hondius, der im Jahre 1595 selbst
ein Buch ähnlichen Inhalts herausgab, das er Theatrum artis scribendi nannte.
Während die aldinsche Itahka meines Wissens in moderner Rephk überhaupt nicht
als Begleitschrift moderner Repliken der aldinschen Antiqua vorkommt, steht uns die
Italika Vicentinos auch heute in verschiedenen Ausgaben moderner Schriftgießereien
und Setzmaschinenfabriken zur Verfügung. Es ist interessant, daß sich die Schrift¬
künstler dieser Unternehmen einerseits insgesamt die zweite Vicentinosche Italika zum
Vorbild nahmen, andererseits aber ihre Kopien dieser Itahka völlig stillos zur Be¬
gleitschrift von Kopien der Aldinschen Antiqua machten. Eine andere gewichtige
Abweichung vom Original dieser modernen Ausgaben der vicentinoschen Italika,
denen wir hier bei passender Gelegenheit noch einige Aufmerksamkeit widmen wer¬
den, ist die geneigte Zeichnung der Versahen, die dadurch den heutigen Gewohn¬
heiten angepaßt, aber damit um den Reiz des Kontrastes der ursprünglich kleinen und
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