DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
wicklung in populären Darlegungen der Schriftgeschichte mit einer naiven, die Wirk¬
lichkeit stark verzeichnenden Legende erläutert wird. Immer noch hören und lesen
wir recht häufig, daß Aldus Manutius, angespornt vom lobenswerten Ehrgeiz, sich
mit dem Ruhm Nicolas Jensons auf dem Gebiet des typographischen Schaffens zu
messen, auf den Gedanken verfiel, in einem gedruckten Buch die Imitation einer hand¬
geschriebenen Schrift zu verwenden. Wir erfahren weiter, daß er zur Realisierung
dieser Idee als Muster Petrarcas Autograph benutzte und daß seine Italika dann selbst
zum Muster aller folgenden Schriften dieser Art wurde. Auch diese Legende entspricht
bei weitem nicht den historischen Tatsachen und zerfließt sofort im Licht einer kriti¬
schen, auf bewiesenen Erkenntnissen begründeten Analyse. Nur in einer Beziehung
stimmt die Geschichte mit der Legende überein, nämlich in der Anerkennung der
Priorität von Aldus Manutius. Hinsichtlich der eigentlichen Beweggründe für die Ein¬
führung der Kursivform in das Schriftmaterial der Druckerei dieses gelehrten Huma¬
nisten besteht kein Zweifel darüber, daß sie weniger ideale Hintergründe hatte.
Im Jahre 1498 beschwerte sich ein anderer Humanist, Urceus Codrus, ursprünglich
Hauslehrer am Hofe Ordelaffos, des Fürsten zu Forli, und späterer Professor an der
Universität zu Bologna, in einem Brief an Aldus Manutius, daß seine Ausgabe des
Aristoteles in fünf Bänden ebenso teuer sei wie zehn der größten und besten hand¬
schriftlichen Bücher. Demnach war der Buchdruck zu jener Zeit entweder ein außer¬
gewöhnlich einträgliches oder ein über die Maßen kostspieliges Gewerbe, wenn es so
hohe Preise für seine Erzeugnisse fordern konnte oder zu fordern gezwungen war. Auf
der anderen Seite wurde Aldus Manutius wahrscheinlich durch Beschwerden solcher
Art veranlaßt, eine Senkung der Preise für gedruckte Bücher zu versuchen, was er
auch recht bald mit seiner bilhgen Klassikeredition verwirklichte, die er im Jahre 1501
einleitete. Eine Senkung der Produktionskosten bei gleicher Auf lagenhöhe konnte da¬
mals wie heute nur durch Verringerung des Formats und gleichzeitig auch des Um-
fangs erreicht werden, also durch sparsamsten Satz. Sparsamkeit gehörte jedoch nicht
zu den Vorzügen der zeitgenössischen Antiqua, und darum war Aldus Manutius
genötigt, sich nach einer neuen Form der Druckschrift umzusehen. Es waren also
vorzugsweise praktische Motive und keineswegs der edle Ehrgeiz, das bisher arme
Schriftmaterial durch eine neue und ästhetisch bemerkenswerte Form zu bereichern,
was die Entstehung der ersten Italika in der Geschichte der Schrift veranlaßte. Nichts¬
destoweniger hat sich Aldus auf dem Gebiet der Typographie und Druckschrift zwei¬
fellos erneut verdient gemacht, denn die Einführung der Kursivform in die Buch¬
produktion der itahenischen Renaissance war ein außergewöhnhch wertvoller Beitrag,
wie der Verlauf der weiteren Entwicklung der Latein-Druckschrift zeigte. Aber auch
in bezug auf die handschriftliche Lateinschrift muß man Aldus Manutius einen nicht
geringen Einfluß zubilhgen. Durch die Schriften seiner billigen Klassikerausgaben
verbreitete sich die humanistische Kursiv weit über die Grenzen Italiens hinaus.
Die Frage nach einer geeigneten Vorlage für die Druckreproduktion der Kursiv¬
schrift konnte Aldus Manutius keine großen Sorgen bereiten; wie wir gesehen haben,
hatte er keine großen Auswahlmöglichkeiten. Lehnen wir nämlich - aus Gründen,
die wir noch nennen werden - das Märchen von Petrarcas eigener Handschrift ab,
so können wir es für keine besonders überraschende Entdeckung halten, wenn Aldus
fand, daß unter den humanistischen Schriften einzig und allein die lettera cancel-
laresca mit ihrer schmalen und sparsamen Zeichnung dem neu entstandenen Interesse
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ITALIKA DES ALDINSCHEN TYPUS
des kommerziellen Aspekts seines Unternehmens entsprechen konnte. Den Schnitt der
neuen Schrift vertraute Aldus Manutius seinem bewährten Mitarbeiter Francesco
Griffo an. Dieser wählte, vielleicht auf Wunsch des Bestellers, als Vorlage eine zeit¬
genössische Variante der Urkundenschrift aus, die sich aus der Schrift der päpstlichen
Kanzlei entwickelt hatte, einer Variante, die man als cancellaresca bastarda be¬
zeichnete. Die unbestrittene Herkunft der Aldinschen Italika aus der italienischen
Kanzleischrift der Renaissance erhärtet nicht nur der bloße Vergleich beider Schriften.
So bezeichnete zum Beispiel schon Geronimo Soncino, der in Fano mit einer anderen,
zeichnerisch übereinstimmenden Version der Italika Griffos druckte, in der Dedikation
zu seiner Petrarca-Ausgabe von 1503 die neue Schrift direkt als cancellaresca (... vna
noua forma de littere dieta corsiva, о vera cancellaresca, la quale non Aldo Romano,
ne altri che astutamente hanno tentato de le altrui penne adonarse, ma esso M. Fran¬
cesco è stato primo inuentore e disignatore...) und bezeugte gleichzeitig die Autor¬
schaft Francesco Griffos. Das allerdings bestätigte Aldus Manutius im Vorwort zu
seinem Vergil vom Jahre 1501 auch selbst. Die einzige Erwähnung von Petrarcas
eigener Handschrift findet sich im Vorwort zu einem weiteren, im gleichen Jahre in
Italika gedruckten Aldinschen Buche, dem Petrarca von 1501. Dort wird angeführt,
daß diese Ausgabe nach der eigenen Handschrift Petrarcas gesetzt wurde, einem damals
im Besitz Pietro Bembos befindlichen Manuskript. Diese Passage, mit der Aldus Ma¬
nutius nur die Authentizität des Textes seiner Ausgabe betonen wollte, wurde offenbar
falsch verstanden. Damit kann vielleicht die Entstehung der bereits widerlegten, aber
zählebigen Legende von Petrarcas Autograph als Vorlage für die Zeichnung der Al¬
dinschen Italika erklärt werden.
Das erste mit dieser neuen Schrift überhaupt gedruckte Buch war jener Vergilius,
mit dem Aldus Manutius im Jahre 1501 die Reihe seiner billigen Klassikerausgaben
einleitete (Abb. 66). Setzen wir eine bestimmte Zeit für die technische Herstellung
der Prägestempel, Matrizen, Letternabgüsse und des Druckes selbst voraus, so machen
wir uns wohl keines Fehlgriffs schuldig, wenn wir als Zeitpunkt der Entstehung der
Aldinschen Italika mindestens das Jahr 1500 bezeichnen und wenn wir die ersten mit
ihrer Zeichnung und ihrem Schnitt verbundenen Arbeiten Francesco Griffos bis 1499
zurückverlegen, das Jahr, in dem der endgültige Zustand der Aldinschen Antiqua des
Poliphilus in Erscheinung trat. Hieraus ist zu ersehen, daß Aldus Manutius unverzüglich
die Konsequenzen aus der Beschwerde zog, die ihm Urceus Codrus mit seinem Brief
aus dem Jahre 1498 vermittelt hatte.
Francesco Griffo, der sich gerade durch die beiden Schnitte der Aldinschen Antiqua
so ausgezeichnet hatte, bewies hinsichtlich der Schriftzeichnung der Aldinschen Italika
keine so glückliche Hand. Zu seiner Entschuldigung muß man jedoch daran erinnern,
welche außerordentlichen Schwierigkeiten die handwerkliche Fertigung von Stempeln
so kleiner Ausmaße einer Schrift von neuem, bisher nicht erprobtem Typus mit sich
brachte. Darum scheint seine Zeichnung im Vergleich zu den Schriften der zweiten
Untergruppe dieser Klasse trotz eines gewissen unleugbaren kursiven Reizes verhältnis¬
mäßig ärmhch. Der Italika als Schrifttyp war übrigens schon bei ihrer Geburt das Los
einer armen Verwandten der Antiqua beschieden, denn ihrer Bestimmung nach sollte
sie ausschließlich eine Schrift für die billigsten Bücher sein, und auch ihre späteren
Geschicke wiesen ihr neben der Antiqua nur einen zweitrangigen Platz zu. Im Falle
Aldus' war es ihre Aufgabe, eine möglichst große Menge Text in eine Satzseite zu
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