DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
dem kleinen Alphabet und der Zeichnung einiger wenn auch etwas grob geschnittener
ursprünghcher Versahen ist diese Aldinsche Antiqua bereits eine Schrift von ganz neuem
Schnitt; sie leitet eine ganze Reihe von Schriften ein, die wegen ihrer gemeinsamen
Sondermerkmale und der recht unmerklichen formalen Abweichungen die zweite und
unverhältnismäßig größere Gruppe in der Klasse der Antiqua des Renaissancetypus
bilden. Wenn wir diese Gruppe mit der Sammelbezeichnung ANTIQUA DES AL-
DINSCHEN TYPUS belegen, haben wir die Schriftform im Sinn, die in der engli¬
schen Fachhteratur mit der geläufigen Bezeichnung old face angeführt wird, während
ihre in Mitteleuropa eingebürgerte Bezeichnung Mediäval sehr unbestimmt und histo¬
risch widersinnig ist. In der weiteren Entwicklung wird es im Interesse einer sicheren
Orientierung notwendig sein, mit zwei weiteren Untergruppen zwei verschiedene Ver¬
sionen genauer zu unterscheiden, die sich aus der Aldinschen Antiqua einerseits in
Frankreich, andererseits in den Niederlanden und England entwickelten.
Vom formalen Gesichtspunkt aus ist für diese erste Aldinsche Antiqua der Abstand
kennzeichnend, um den sich die Entwicklung der Druckschrift in dieser verhältnis¬
mäßig kurzen Zeit von der Grundlage der Schreibtradition entfernte, um sich dem
eigengesetzlichen Prinzip der Schnitt- und Gußtechnik zu nähern. Schon was die
Versahen betrifft, wird an der Aldinschen Antiqua sichtbar, daß sich der Stempel¬
schneider unmittelbar klassische römische Steinschriften zum Muster nahm, und kei¬
neswegs die Kapitalbuchstaben von Handschriften, wie das zum Beispiel noch Jenson
und Ratdolt taten. Bei den Aldinschen Versalien gibt es darum keine schweren, ins
Innere des Schriftbildes gezogenen Serifen im Kopf des M, wie das bei der Jensonschen
Antiqua der Fall war, und auch nicht am Kopf des N oder A, wie bei anderen frühen
Schriften der Antiqua venezianischen Schnitts. Für die Bestimmung dieser ersten
Entwicklungsphase der Aldinschen Antiqua, ebenso wie für die Feststellung der wei¬
teren Entwicklungsrichtung der Renaissance-Antiqua überhaupt, ist der Versal G
sehr wichtig, wenn auch nicht sehr geglückt, mit einseitiger, nur ins Innere des Schrift¬
bild es ausaufender Serife des kurzen Schaftes. Bemerkenswert ist hier noch der ho¬
rizontal albgeschnittene Scheitel der Majuskel A. Der Einfluß der klassischen römi¬
schen Monumentalschrift kommt auch in der leichten Neigung der großen und der
kleinen runden Letter s zum Ausdruck. Im kleinen Alphabet mit dem verhältnismäßig
großen Schriftbild ist dann eine geringere Neigung des Querstrichs beim e besonders
bemerkenswert, der außerdem ungewöhnlich hoch ansetzt; diese Lage ist seit der Zeit
traditionell. Die hierdurch stark verkleinerte Schlinge des Buchstaben e hat sodann
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem nicht weniger miniaturhaften Bäuchlein des a, einer
Form, die sich auch in der weiteren Entwicklung für lange Zeit stabilisierte. Im ganzen
unterscheiden sich die beiden Alphabete der Aldinschen Antiqua aus dem Jahre 1495
von der Antiqua Nicolas Jensons von 1470 durch den größeren Kontrast des Strich¬
stärkewechsels, eine etwas engere Schriftzeichnung und eine größere Feinheit im Schnitt
der Serifen. Dadurch verloren sie dennoch nichts an graphischer oder Satzqualität,
dagegen wurde die Sparsamkeit des Satzes erhöht, die für die Drucker bis dahin kein
richtungweisender Gesichtspunkt war. In moderner Zeit wird der Sparsamkeit des
Satzes viel größere Bedeutung beigemessen, und deshalb wurde bei der Nachfrage
nach alten Vorlagen auch diese Aldinsche Antiqua erneut in einer modernen Replik
herausgegeben, die hier an entsprechender Stelle noch behandelt werden soll.
Aldus selbst behielt diese Antiqua mehrere Jahre und druckte damit unter anderem
122
ANTIQUA DES ALDINSCHEN TYPUS
1496 das Diario des Alexander Benedictus. Im Juni des Jahres 1497 gab dann der
venezianische Arzt Nicolaus Leonicemus bei Aldus Manutius die Abhandlung De Epi¬
demia heraus, die der Verleger mit einer neuen Schrift ähnlichen Schnittes setzte,
aber in einer Größe von 10-11 Punkt. Diese Antiqua ist nur als Übergangsform
zwischen der Schrift des Traktates De Aetna und der Definitivform der Aldinschen
Antiqua erwähnenswert, die zwei Jahre später erschien.
Im Jahre 1499 gab Aldus Manutius ein berühmtes Buch mit dem Titel Hypneroto-
machia Poliphili (Abb. 63) heraus, weniger berühmt wegen der literarischen Qualität
des Textes, in dem Francesco Colonna eine erotische Erzählung von durchschnitt¬
lichem Renaissancezuschnitt in einen Traum hüllt, als wegen des hohen Niveaus der
Buchproduktion. Es ist dies das erste im modernen Sinn illustrierte gedruckte Buch,
und als solches erwarb es sich auf Grund der bewundernswerten Einheit des Satzes
und seiner linearen Holzschnittabbildungen einen verdienten Ruhm und wurde zum
unübertroffenen Vorbild der Bemühungen der Buchkünstler bis in unsere Zeit. Aus
dem Gesichtswinkel unseres Interesses ist dieses Buch vor allem dadurch bedeutungs¬
voll, daß für seinen Satz eine vollkommene, formal noch feiner ziselierte Version der
Aldinschen Antiqua des Traktats Pietro Bembos verwendet wurde. Während das Al¬
phabet der kleinen Lettern des Poliphilus nur eine feinere, engere und kontrastreichere
Variante der ersten Entwicklungsstufe der Aldinschen Antiqua ist, unterscheiden sich
die Versahen viel deutlicher (Abb. 64). Noch augenfälhger spiegelt sich darin die
klassische scriptura monumentalis der besten römischen Inschriften als unmittelbare
Vorlage wider. Der klassische Rhythmus der Proportionen der einzelnen Buchstaben
wird hier im Quadratgrundschema der scriptura quadrata ängstlich eingehalten. Die
Kühle der Monumentalzeichnung der Vorlage ist aber bei den Versahen des Poliphilus
durch die lebendige Zeichnung der Serifen mit der fühlbaren Einbiegung der Hori¬
zontalen und den ziemlich scharfen Anstrichen verwischt. Unter den einzelnen Let¬
tern für die Versalien dieser zweiten Entwicklungsstufe der aldinschen Antiqua ist die
Zeichnung des Buchstabens A mit dem stumpfen, horizontal abgeschnittenen Scheitel
charakteristisch, die schöne, unten länger ausgezogene Krümmung des C, die beider¬
seitige Serife am kurzen Schaft des G und die besonders typische Zeichnung des M,
in dessen asymmetrischem Bild kein einziger Zug den gleichen Winkel mit der Zeilen¬
horizontale einschließt und dessen Berührungspunkt der inneren Züge etwas oberhalb
der Grundlinie endet; ihren geraden Verlauf unterbricht die starke Einbiegung der
Serifen am Fuß der Schäfte. Der offene Bauch des Buchstabens P ist auffallend groß
im Verhältnis zum Bauch des R, dessen Füßchen mit einer leichten Krümmung weit
abgespreizt ist. Der Qj-Schweif wird nach dem Beispiel der klassischen Inschriften unter
den Nachbarbuchstaben verlängert, und nach dem gleichen Muster ist der Buchstabe
S leicht nach rechts geneigt. Die Spitze der Winkelzüge des V zeigt ähnlich wie die
Innenzüge des M eine leichte Biegung. Bemerkenswert ist ebenfalls die Zeichnung
des Versals Y mit einer runden Gabelung, ebenso wie die noch stärkere Verkleinerung
des Bauches bei der Minuskel a in Anlehnung an die Miniaturschlinge des e. In der
Zeichnung dieses Buchstabens kommt es dann zu einer besonders wichtigen und für
die weitere Entwicklung entscheidenden Veränderung, der Ausrichtung des Quer¬
strichs in die Horizontale, jenes Strichs, der bisher in allen vorangegangenen Antiqua¬
schriften schräg stand. Wodurch sich aber die Antiqua des Poliphilus von der Antiqua
Nicolas Jensons besonders unterscheidet, ist die Sorgfalt, die auf das Auswiegen des
123