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55. Antiqua des venezianischen Typus. N. Jenson, 1470.
ANTIQ.UA DES VENEZIANISCHEN TYPUS
tatsächlich die erste gute Antiqua, deren schlichte Schönheit wir im Satz jeder Seite
auskosten, selbst wenn ihre Zeichnung durch den unzureichenden Druck der zeit¬
genössischen Inkunabeln größtenteils verwischt ist. Man muß sich über die betonte
Rundheit und Klarheit der Buchstaben freuen, die in sauber ausgerichteten Zeilen
und regelmäßigem Rhythmus der Zwischenräume in allen Satzkombinationen der
einzelnen Buchstaben des Alphabets aneinandergereiht werden. Jenson begriff offen¬
bar, daß die Qualität der Komposition und der Gesamtlichtwert der Lettern eine
größere Bedeutung haben als deren eigentliche Zeichnung. HinsichtUch der Schrift¬
zeichnung ist hier eine bewundernswerte Einheit des Gegensatzes zwischen der aus¬
geprägten Differenzierung des Charakters der einzelnen Buchstaben und der einheitli¬
chen Stilordnung des gesamten Alphabets erreicht (Abb. 53). Bei den Minuskeln, die
besonders wegen der technischen Sauberkeit ihres Schnitts und Gusses bewundert
werden müssen, besteht die einzige Neuheit gegenüber der Antiqua Wendelin da
Spiras vielleicht in der Zeichnung des Buchstabens h, dessen bis dahin runder, aus
der Unziale übernommener zweiter Zug des offenen Bauches sich zu jener Gestalt
streckte, mit der er zur heutigen Form der Buchschrift überging. Manche Autoren,
wie etwa Stanley Morison, zeigen keine Begeisterung dafür, von der traditionellen
Zeichnung dieses Buchstabens abzulassen, aber mir scheint, daß Jenson damit ver¬
dienstvollerweise die Differenzierung der Minuskel h vom b auf eine neue, graphisch
zweifellos saubere Art verstärkte, was ihm nicht als Fehler, sondern als Verdienst an¬
gerechnet werden sollte. Die Letter e hat immer noch den handschriftlich schrägen
Querstrich, der sich mit dem Bogen der Buchstabenschlinge zu einem charakte¬
ristisch auslaufenden Schnäbelchen vereinigt. Unter den Versalien, die insgesamt in
das klassische Quadrat mit Betonung der Breite des Schriftbildes komponiert sind,
verdient vor allem die typische Zeichnung des Buchstabens M mit den ins Innere des
Schriftbildes gezogenen oberen Serifen besondere Beachtung, weiter das P mit dem
geschlossenen, verhältnismäßig großen Bauch, das Qmit dem unter den benachbarten
Buchstaben и gezogenen Schweif, das R mit dem gebogenen Füßchen und die schöne
breite Zeichnung des S. Der Versal A hat im Vergleich zu den übrigen Antiquaschrif¬
ten des venezianischen Typus einen scharfen Scheitel ohne Serifen. Auch Jenson kam
noch nicht ohne Abbreviaturen und Ligaturen aus, die aber in seinem Satz jene voll¬
endete Zeichnung aufweisen, in der sie sich bis in unsere Zeit erhielten, zum Beispiel
ae, et und das eigentümliche, in die Höhe der Versahen gezeichnete &. Im ganzen sind
für die Jensonsche Antiqua der sehr geringe Kontrast des Strichstärkewechsels, die
noch ziemlich dunkle Schriftzeichnung, die schräge Schattenachse und die stumpfen
dreieckigen Serifen typisch. Aber ihr wichtigstes, für die weitere Entwicklung der
Buchschrift außergewöhnlich bedeutungsvolles Merkmal ist der typisch druckmäßige
Gesamtcharakter der Schriftzeichnung, der der neuen Schrifttechnik und neuen Form
der Buchproduktion adäquat ist. Obwohl noch einige der soeben erwähnten Elemente
seiner Antiquazeichnung gewisse Spuren des Erbes der Handschrift aufweisen, war
Nicolas Jenson doch der erste, der sich mit den technischen Voraussetzungen und
Möglichkeiten der Druckletternerzeugung graphisch auseinandersetzte. Jensons Ideal
war offenbar nicht mehr die getreue Nachahmung der zeitgenössischen Handschriften,
wie wir das noch bei den ersten Druckern verzeichneten. Seine Schrift will nicht den
Eindruck erwecken, mit der Hand und der Feder geschrieben worden zu sein, sie ist
also keine bloße Reproduktion einer kalligraphischen Vorlage; sie ist gerade dadurch
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