DIE DRUCKSCHRIFTEN DES RENAISSANCETYPUS
Hauptphasen, von denen die erste fast zwei ganze Stilepochen umfaßte, die Renais¬
sance und den größten Teil des Barocks. Diese Renaissanceform der Antiqua, die
eine solche Widerstandskraft gegen den Einfluß von Stilwandlungen bewies, wird in
der Fachliteratur unterschiedlich bezeichnet, und deshalb kommt es häufig zu Mi߬
verständnissen, wenn es sich um eine genauere Klassifikation von Schriftformen han¬
delt, die sich auf den ersten Blick recht wenig unterscheiden. Um dem vorzubeugen,
empfehle ich für die gesamte Gruppe die Sammelbezeichnung ANTIQUA DES RE¬
NAISSANCETYPUS, durch die die völlig ungeeignete, wenn auch in den Setzereien
und populären Handbüchern übliche Bezeichnung Mediäval, also mittelalterliche, er¬
setzt würde. Die Unexaktheit dieser Bezeichnung, die nach deutschem Beispiel in den
Ländern unter dem Einfluß der deutschen Schriftgießerei und des deutschen Buch¬
drucks für jene typisch neuzeitlichen Formen verwendet wird, die auf die mittelalter¬
lichen Schriften des gotischen Typus folgten, ist offensichtlich, obwohl man sie viel¬
leicht mit dem Hinweis auf den noch älteren mittelalterlichen Ursprung der neokaro-
lingischen Minuskel verteidigen könnte, die das eigentliche Vorbild des kleinen Alpha¬
bets der Renaissance-Antiqua darstellt. Noch zweifelhafter ist die in Mitteleuropa
immer noch verbreitete Gewohnheit, die Renaissancebezeichnung Antiqua ausschlie߬
lich für ihre späteren klassizistischen Varianten vom Ende des 18. und der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verwenden. In der englischen Literatur wird die aus¬
gereifte Antiqua des Renaissancetypus als old face charakterisiert, und diese Bezeich¬
nung ist schon so stabilisiert, daß es zu keinem Mißverständnis kommen kann. Die
Franzosen nennen diese Form elzevir, was keinerlei historische Berechtigung hat, da
dieser Name von jenem der Inhaber eines berühmten holländischen Druckerei- und
Verlagsunternehmens abgeleitet ist, das erst am Ende des 16. Jahrhunderts gegründet
wurde.
Die Entstehung der ersten Antiqua in der Geschichte des Buchdrucks ist anscheinend
keine strittige Frage mehr. Die Theorie С Dziatzkos über das diesbezügliche Primat
des Straßburger Druckers Adolf Rusch wurde in letzter Zeit schweigend übergangen,
und so teilen sich in diesen Ruhm erneut die Drucker Sweynheim und Pannartz, von
deren Tätigkeit in Subiaco wir hier schon berichteten. Zweifelhaft bleibt jetzt nur
noch, ob man ihre Schrift aus Subiaco vom Jahre 1465 schon als Antiqua ansehen
kann, was einige Autoren immer noch befürworten. Doch das gotische Gepräge dieser
Schrift ist wohl zu deutlich, als daß wir uns dieser Ansicht ohne jene Vorbehalte an¬
schließen könnten, die hier an entsprechender Stelle angeführt wurden. Diese Vor¬
behalte braucht man jedoch nicht gegen die zweite Schrift dieser Drucker zu erheben,
die kurz nach ihrer Gotico-Antiqua entstand, aber nicht mehr in Subiaco. Inzwischen
waren Sweynheim und Pannartz nämlich mit ihrem Gewerbe nach Rom übersiedelt,
wo sie im Palazzo der Familie De Massimi seit 1467 mit einer neuen Schrift zu drucken
begannen, die man zum Unterschied von der aus Subiaco tatsächlich und sicher als
Antiqua bezeichnen kann. Diese römische Schrift von Sweynheim und Pannartz (Abb. 50)
ist zwar von einer vollkommenen Antiqua noch weit entfernt, die gotische Brechung
des Duktus bleibt immer noch deutlich, besonders beim Buchstaben e, aber im ganzen
stellt sie doch bereits einen großen Fortschritt auf diesem Wege dar. Sie ist nicht mehr
so kondensiert und schwarz wie die erste, doch lassen die verhältnismäßig kurzen
Ober- und Unterlängen des ziemlich großen Schriftbildes im Zeilenabstand nur wenig
Licht zu. Typisch für diese frühe Antiqua ist die Zeichnung des Buchstabens a, dessen
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ANTIQ.UA DES VENEZIANISCHEN TYPUS
Bogen des offenen oberen Bauches sich auffallend verkleinerte, und zwar bis zu den
Maßen einer größeren Serife. Trotz aller Unzulänglichkeiten hatte diese Antiqua
anscheinend doch einen unverhältnismäßig größeren Erfolg als die Subiacoschrift
derselben Drucker, denn seit 1467, als sie damit Ciceros Epistulae ad familiares
druckten, setzten sie daraus im Laufe ihres zehnjährigen Aufenthaltes in Rom etwa
fünfzig weitere Bücher.
Es war aber weder Rom noch der Brennpunkt der Renaissance, Florenz, sondern
Venedig, wo die Druck-Replik der humanistischen Minuskel eine für die frühe An¬
tiqua so charakteristische Form erreichte, daß die moderne englische Paläotypie die
Schriften dieser Art zu einer Gruppe mit der Bezeichnung Venetian zusammenfaßte.
Ich zögere nicht, diese vorteilhafte Klassifizierung zu übernehmen, denn der Terminus
ANTIQUA DES VENEZIANISCHEN TYPUS, womit ich weiterhin die erste Un¬
tergruppe der Frühformen der Antiqua des Renaissancetypus bezeichnen werde, ver¬
mag mit ausreichender Genauigkeit die lange Reihe jener Schriften auszuschließen,
die übrigens alle nicht in Venedig entstanden. Auf Grund einiger gemeinsamer Merk¬
male, wie es zum Beispiel die dunkle Farbe des Schriftbildes, der geringe Kontrast
der schwachen und starken Züge, die nach innen gezogenen oberen Serifen des M,
die Serife am Scheitel des A und der Schrägbalken der Minuskel e sind, kann man zu
dieser Gruppe auch die römische Antiqua von Sweynheim und Pannartz zählen. Die
erste tatsächliche venezianische Antiqua kam aber im Jahre 1469 mit einer weiteren
Auflage von Ciceros Epistulae ad familiares (Abb. 51) heraus, die von den ersten
Druckern in Venedig Johann und Wendelin da Spira, geborenen Deutschen aus Speyer,
gedruckt wurde. Die beiden Brüder waren sich offenbar der Neuheit ihrer Schrift
bewußt und eifersüchtig bemüht, sich das Autorenrecht daran zu sichern, was ihnen
auch für einen Zeitraum von vier Jahren in einem besonderen, aber wie in so vielen
ähnlichen Fällen nicht sehr wirkungsvollen Privileg zugesichert wurde. Trotz be¬
stimmter Unzulänglichkeiten in den Proportionen des Schriftbildes einiger Lettern
ist sie bereits eine sehr gute Antiqua mit einem außergewöhnlich regelmäßigen, ein¬
fachen und abgerundeten Bild, fast modern in der graphischen Gesamtwirkung, die
für ihre Zeit ebenso neu war, wie ihre Auffassung von der graphischen Gesamtge¬
staltung des Buches. Was man nach S. Morison an der Antiqua der Brüder da Spira
einzig und allein aussetzen könnte, sind die sehr großen Versalien, die der Höhe der
verhältnismäßig langen Schäfte der Buchstaben b, d,f h, k, l und langes s angeglichen
sind. Im Vergleich mit einer handschriftlichen Seite der humanistischen Kalligraphen,
wie etwa des Antonio Sinibaldi, der die Majuskeln in angemessenen Proportionen zur
mittleren Buchstabenhöhe und zum Gesamtbild der Textseite hielt, bilden die Versa¬
lien der ersten venezianischen Drucker im Satz wirklich in die Augen fallende Flecken.
In der kleineren Stufe der Antiqua, die Wendelin da Spira nach dem Tode seines
Bruders bereits im Jahre 1470 schnitt, sind die Versalien ein wenig verkleinert, aber
noch nicht so, daß sie nicht immer noch zu viel Aufmerksamkeit auf sich zögen. Dieser
Grundsatz, die Versalien auf die Höhe der Oberlängen der kleinen Lettern zu bringen,
wurde seit dieser Zeit zu einer Tradition, deren ungünstige Folgen wir bis heute zu
spüren haben. Nichtsdestoweniger muß den Brüdern da Spira das Verdienst zuer¬
kannt werden, durch ihre Tätigkeit den Ruhm Venedigs begründet zu haben, das als
Zentrum des Buchdrucks für lange Zeit Rom, Florenz, Bologna und alle übrigen
Städte Italiens und schließlich auch des übrigen Europa in den Schatten stellte. Die
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