DIE SCHRIFTEN DER RENAISSANCE-HANDSCHRIFTEN
Schärfe der Zeichnung, durch die zum Beispiel manchmal die italienische lettera can¬
cellaresca auffiel, nicht bedeutungslos ist. Außerdem sind auch für die bâtarde italienne
die einfachen Strichendungen der Buchstaben b und h mit dem serifenartigen Ansatz
der Züge typisch.
War die italienische Kursiv in Frankreich vor der Mitte des 16. Jahrhunderts
auch eine fremde Schrift, so wirkten sich ihre französischen Beispiele dennoch auf ihre
Verbreitung im deutschen Kulturbereich aus. So erschien in Köln am Rhein bereits
im Jahre 1549 das Thesaurium artis scriptoriae et Cancellariae Scribarumque Cleno-
dium, wo der Autor der Sammlung Caspar Neff nicht nur schöne Beispiele der italie¬
nischen Kanzleischrift vorführt, der er den umständlichen Namen Characteres in Ro¬
mana Cancellaria usurpantur oder Latini characteres quos vulgo Scriptorum Curso-
riam appellant verleiht, sondern auch andere Kursiven desselben Typus, mit denen
er ausschließlich französische Texte schreibt und denen er auch französische Namen
gibt. So ist z. B. seine Escripture Françoyse laquelle on use dans La Chancellerie eine
sehr wenig geneigte komprimierte cancellaresca bastarda, während seine nächste,
stärker geneigte, ebenso wie die lettre pattée mit horizontalen Serifen versehene Va¬
riante als L'Escripture Françoise faite selon le mode pendante bezeichnet ist. Diese
Schrift kann aber nur noch mit der Neigung der Schriftachse und der kalligraphischen
Verlängerung einiger weniger Züge ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Kursivschrif¬
ten belegen, von denen sie sich im übrigen durch die sehr formalen Serifen der Ober-
und Unterlängen der Minuskeln, ebenso wie durch die Buchform des Buchstabens a
unterscheidet.
Französische Modifikationen der italienischen Renaissance-Kursiv bringen auch
andere deutsche Kalligraphen und beinahe alle niederländischen Schreibmeister, die
sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in ihren so zahlreichen Musterbüchern
veröffentlichen; wir brauchen darunter vollständigkeitshalber nur jene anzuführen,
die von Clément Perret (Exercitatio Alphabetica nova etc., Brüssel 1569), Houthusius
(Exemplaria, Antwerpen 1591) und Boissens (Promptuarium, Amsterdam 1594) her¬
ausgegeben wurden. Der erste der Genannten formte sie wahrscheinlich noch unmit¬
telbar nach italienischen Vorbildern, aber in den weiteren Mustersammlungen wird
der Einfluß der zeitgenössischen französischen und auch der spanischen Kalligraphie
immer deutlicher. Ähnlich wie in Deutschland verwendete man auch in den Nieder¬
landen anfangs die humanistische Kursiv nur ausnahmsweise, und zwar ausschließlich
zum Schreiben lateinischer Texte; allmählich gewann die neue Schrift jedoch an
Boden, um die niederländische Schreibkunst schließlich fast ganz zu beherrschen.
Sicher waren die französischen Lehrer, die zu dieser Zeit die in den Niederlanden
eingerichteten Schulen französischen Typs leiteten, darum bemüht.
In England war die italienische Kursiv zweifellos viel früher geläufig, als man auf
Grund der verhältnismäßig späten ersten englischen kalligraphischen Sammlung A
booke containing divers sorts of hands by J. de Beauchesne and John Baildon, die
erst 1571 vermutlich in London erschien, annehmen könnte. Davon scheinen einige
Urkunden vom Anfang der Regierungszeit der Königin Elisabeth, die in ihren Unter¬
schriften selbst langjährige Übung im Schreiben der neuen Schrift verrät, Zeugnis
abzulegen. Die Kursiv des gotischen Typus hatte sich allerdings, wie wir bereits ge¬
sehen haben, in England des 16. Jahrhunderts sehr eingelebt, und darum widmen ihr
Beauchesne und Baildon in ihrem sachlichen schmucklosen Buch neben den Proben
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BÂTARDE ITALIENNE
ihrer eigenen Version der lateinischen Kursiv nach italienischem oder französischem
Muster gebührende Aufmerksamkeit. Hier fehlt auch die besonders zu dieser Zeit
beliebte kalligraphische Form lettere piacevole nicht, die große Ähnlichkeit mit der lettre
plaisante aufweist, einer französischen Schriftspielerei von derselben Art, wie wir sie
gerade kennengelernt haben. Daneben hatte unter den Renaissance-Skripten, wie es
scheint, in England vor allem die bâtarde italienne einen festen Platz, worauf man
aus den zahlreichen Proben in kalligraphischen Sammlungen noch im 16. bis 18.
Jahrhundert, in denen sie zum Beispiel Daniel im Jahre 1664 und John Clark im Jahre
1714 veröffentlicht, schließen kann.
Umstürzende historische Begebenheiten isolierten die böhmischen Länder vor dem
Eindringen des Einflusses der Renaissancebewegung, die inzwischen das ganze übrige
zivilisierte Europa beherrschte, und darum sind die Beispiele der italienischen Re¬
naissance-Kursiv in Böhmen spät und auch in lateinischen Urkunden recht selten.
Urkunden in tschechischer Sprache wurden auch in der Renaissance und im Barock
ausschließlich mit Kursiven des gotischen Typus geschrieben, die formal von der
gleichlaufenden Entwicklung der deutschen Schreibkunst abhängig waren.
Als Schreibdruckschrift war die lettera cancellaresca in ihrer reinen kursiven Form
sowohl in Italien als auch jenseits der Alpen merkwürdig selten. Abgesehen von ähnli¬
chen Druckschriften Ludovico Vicentinos, mit denen wir uns später sehr ausführlich
in anderem Zusammenhang beschäftigen werden, stellt in der ganzen europäischen
Typographie ein anderes Einzelbeispiel dieser Art nur die sehr reizvolle Skript dar,
mit der Sebastien Cramoisy IL in Paris um 1620 den Textteil des Buches über die
hebräische Musik Quaestionnes Celeberrimae in Genesim von Marinus Mersenne
druckte. Es ist dies eine sehr getreu reproduzierte cancellaresca romana mit kalligra¬
phischen Versalien und einigen besonders hinzugefügten Lettern, deren Schnitt der
spezielle Charakter des Werkes verlangte. Inzwischen wurde aber schon vor mehr als
einem Jahrhundert die cancellaresca zum Ausgangspunkt der interessanten Entwick¬
lung eines neuen 'kursiven' Typus der Druckschrift, deren historische Formen eine
außerordentlich bedeutungsvolle und umfangreiche Gruppe bilden.
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