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LETTERA CANCELLARESCA
Extrem ab, und damit erhält das Ganze das Aussehen einer Barockschrift. Aus diesem
Grunde wird es auch notwendig sein, die weitere Entwicklung der italienischen
Kanzleikursiv dieses Typus im Zusammenhang mit der Schreibkunst der nächsten
Stilepoche zu behandeln.
Die lettera cancellaresca war zwar die beliebteste und charakteristischste, aber nicht
die einzige Form der italienischen Renaissance-Kursiv. Aus Palatinos Musterbüchlein
geht hervor, daß die humanistische Schreibkunst auch auf die Schriften konservativer
Handelskreise abfärbte und daß neben der Kursiv des gotischen Typus, die wir bereits
unter der Bezeichnung lettera mercantesca kennengelernt haben, hier einige mehr
oder weniger unterschiedliche Modifikationen der italienischen Kanzleischrift auf¬
tauchten, die ausdrücklich für die Zwecke der Geschäftskorrespondenz vorgesehen
waren. Nach Palatino war der Prototyp solcher Handelsschriften des Renaissancetypus
wohl die lettera napolitana, im wesentlichen eine cancellaresca formata mit kleinem
rundem Schriftbild und langen Schäften der Buchstaben b, d, h, k, l, die oben etwas
verstärkt und schräg abgeschnitten sind.
Einer weitaus zäheren Tradition der gotischen Schreibkunst begegnete die huma¬
nistische Kursiv jedoch in Spanien. Dort war die gotische Rotunda noch in der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts die typische Nationalform der Handschrift, obwohl in den
Mustersammlungen, die Beispiele ihrer Hochform bringen, bereits schöne Proben der
Renaissance-Kursiv enthalten sind, die teilweise ohne Veränderung aus italienischen
Vorlagen übernommen wurden. Solche Werke sind etwa die berühmte Sammlung
Recopilation subtilissima intitulada Orthographia pratica, die Juan de Yciar in der
Erstauf läge 1548 in Saragossa herausgab, und seine noch berühmtere, in Madrid
schon vorher, nämlich im Jahre 1547, herausgegebene Arte subtilissima por la quai
se enseña a escrivir perfectamente. Eine solche Schrift ist etwa Yciars cancellaresca
castellana, übrigens - wie auch ihr Name erkennen läßt - eine unverhohlene und sehr
getreue Kopie der italienischen Kanzlei-Kursiv mit konsequent nach rechts gebogenen
Oberlängen der Buchstaben b, d, h, k, l und nach links gebeugten Unterlängen des
p und q. Die Zugehörigkeit zur Familie der zeitgenössischen spanischen Kursiv wird
hier nur durch den größeren Kontrast des Duktus ausgedrückt, der sich aus der Ver¬
wendung einer breiteren Feder ergibt. Geradezu unspanisch ist dann die letra tratizada
desselben Kalligraphen, die nichts anderes darstellt als eine virtuos reproduzierte can¬
cellaresca romana mit kalligraphisch kühn ausgezirkelten An- und Endstrichen der
Majuskeln.
In der spanischen Urkundenschrift wurde häufig eine tatsächlich spanische Lokal¬
modifikation der italienischen Kanzleischrift verwendet, eine charakteristische Kursiv,
die in Spanien die Bezeichnung LETRA BASTARDA trug. An ihrem Alphabet (Abb.
40) können wir leicht feststellen, daß sie eine Schrift von sehr gemischtem Ursprung
ist und daß sich also diese Bezeichnung in ihrem Fall als besonders treffend erweist.
Man muß aber gleich zu Beginn daran erinnern, daß die Bezeichnung Bastarda auch
in diesem Falle nicht denselben Sinn hat wie bei den Schriften des gotischen Typus.
Sie ist keine unechte Buchschrift, sondern eine Kursiv, die von verschiedenen stilisti¬
schen und zeichnerischen Vorfahren abgeleitet wurde, unter denen sie auf den ersten
Blick mit ihrem Gesamteindruck an die spanische redondilla erinnert, die uns bereits
aus der Gruppe der Kursiven des gotischen Typus bekannt ist. An die Art der re-
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